1992 hatten die Ausgrabung mit einem Glücksfall begonnen: Auf der Suche nach einem Grabungsplatz stolperte Müller-Karpes Frau Vuslat auf dem Kusakli-Hügel über eine Tontafel mit Keilschrift. Die Scherbe beschrieb, welche Opfergaben für das Fest eines bestimmten Gottes dargebracht werden sollten. Wo solch ein eindeutiges Indiz offen herumliegt, so die Archäologen-Schulbuchweisheit, da ist noch mehr zu finden – „eine irrsinnige Chance“, wertete der Marburger Frühgeschichtler.
1993 startete Müller-Karpe mit den ersten Ausgrabungen und legte ein 50 mal 36 Meter großes Gebäude – vermutlich einen Tempel – und eine Wohnsiedlung frei. Im Jahr darauf steckten die Ausgräber auf der alten Akropolis 100 Suchquadrate ab. Bereits nach einer halben Stunde wurde Müller-Karpe mit 46 Bruchstücken beschrifteter Tontafeln fündig. In den Texten tauchte immer wieder der Name „Sarissa“ auf. Den Herzschlag beschleunigten vor allem zwei Textfragmente, die ausführlich das zweimal jährlich stattfindende Fest des örtlichen Wettergottes beschrieben. Das gab dem beglückten Ausgräber die Gewißheit, den verschollenen hethitischen Ort aufgespürt zu haben – Sarissas Wettergott und sein Festival sind auch in den Archivtexten der Metropole verzeichnet.
Sarissa war auch in seiner Blütezeit keine politisch bedeutsame Stadt und lag nicht als Kontrollpunkt an einer der wichtigen Handelsrouten des antiken Orients. Aber sie war, so weisen es die Archivtexte von Hattusa und die archäologischen Grabungen aus, ein wichtiges Heiligtum von Hatti.
Den religiösen Rang des antiken Provinznestes Sarissa belegt schon der Tempel auf der Nordterrasse, der zu den größten des ganzen Reiches gehört. Noch bedeutsamer ist das „Gebäude C“ im Südosten der Siedlung, zweifelsfrei ein Kultbau. Mit 76 Meter Länge und 74 Meter Breite, 84 Räumen allein im Erdgeschoß und 4660 Quadratmeter Fläche ist er doppelt so voluminös wie der Große Tempel in der Hauptstadt Hattusa. Müller-Karpe ist überzeugt: „Das war der Tempel des Wettergottes.“