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Warum soll ich die Welt bereisen, wenn es andere für mich tun!

Allgemein

Warum soll ich die Welt bereisen, wenn es andere für mich tun!
Ein fiktives, gleichwohl realistisches Gespräch mit Thorwald Ewe, dem langjähren Stellvertretenden Chefredakteur von bild der wissenschaft.

bild der wissenschaft: Montags zehn Minuten vor oder alternativ zehn Minuten nach 9 Uhr betraten Sie das Gebäude, in dem die bild der wissenschaft-Redaktion arbeitet. In welcher Gemütsverfassung traten Sie an?

Gefasst. Ich war mir bewusst, den Chefredakteur stets in seinem Büro anzutreffen. Sein Büro lag im ersten Stock, meines im zweiten. Ich musste also im Treppenhaus immer an ihm vorbei. Na ja, dann grüßte ich halt freundlich in sein Office. Der Kerl war montags auch immer vor mir da. Er behauptete, das läge daran, dass er mit seinem Wagen an diesen Tagen früh los müsse, um nicht zu viel Zeit im Stau zu verlieren. Aber wahrscheinlich überlegte er sich schon seit halb acht, mit welcher neuen Idee er uns im wöchentlichen Jour fixe um 10 Uhr überraschen könnte. Die Konferenz leitete zwar ich. Doch sehr häufig ergriff er das Wort und redete und redete.

Unmittelbar an ihren Arbeitsplatz grenzte der von Rüdiger Vaas, der einer der größten Papiersammler vor dem Herrn ist. Die Stapel rund um seinen Bildschirm wachsen zu beängstigender Höhe an. Störte Sie das?

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich machte mir schon Gedanken, inwieweit dieser Staubfänger meiner Lunge zusetzt. Aber ich habe mir meine Bemerkungen erspart. Selbst der Chefredakteur konnte da nichts durchsetzen. Der machte zwar immer mal wieder eine schnippische Bemerkung, einmal schaffte er es sogar, dass Rüdiger Vaas seinen Arbeitsplatz aufräumte und eine Reihe von Materialien verschwinden ließ. Doch mit welchem Ergebnis: Inzwischen sind die Stapel höher als je zuvor. Ich jedenfalls bin froh, es nicht mehr erleben zu müssen, wenn das eines Tages wie ein Kartenhaus zusammenkracht. Höflich wie ich bin, würde ich mich dann ja noch bücken, wo jeder weiß, dass ich schon heftige Last mit meinem Kreuz habe.

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Sie tragen seit Jahrzehnten eine Brille. Anders als beim Chefredakteur, der sie gerne verlegt oder so malträtiert, dass Bügel abbrechen und Gläser herausfallen, saß Ihre Optik immer fest auf der Nase.

Das täuscht. Im Winter 2010 stand ich an meiner Bushaltestelle. Da kam eine Windbö und riss mir die Brille von der Nase. Glauben Sie, ich hätte sie wieder gefunden? I wo. Die Brille war wie vom Erdboden verschluckt. Auch als ich am Tag darauf die Umgebung der Bushaltestelle mit meiner Ersatzbrille genauestens absuchte, fand ich sie nicht wieder.

Erinnern Sie sich an den 15. April 2014?

Klar. Das war heftig. Der Chefredakteur rief mich von unterwegs an und teilte mir mit, er fürchte um seinen Job. Pflichtbewusst wie ich bin, hatte ich eine Person im Haus über kommende bdw-Themen informiert, die das nicht wissen sollte. Wolfgang Hess erläuterte mir in einem weiteren Telefonat, warum das alles hätte nicht geschehen dürfen. Ich saß dann noch eine halbe Stunde im Besprechungszimmer und haderte, dass ausgerechnet ich dazu beitragen könnte, ihn eventuell abzumahnen. Erfreulicherweise ist alles anders gekommen, und die Sache hat sich eingerenkt. Hier sieht man einmal mehr, wie schnell sich aus gutem Willen böse Dinge entwickeln können.

Sie sind ein Meister des Stabreims. Wie man hört, tragen Sie sich mit dem Gedanken, Visitenkarten drucken zu lassen, auf denen steht: Thorwald Ewe, Diplom-Alliterat.

Ehe Ewes Erwerb endgültig endet, ehe er ergreist, ersinnt er ehrgeizig ein epochales Erlebnis – ein effektvolles Erwachsen eines ewig währenden Efeugewächses. Zwar bin ich ein Freund von Stabreimen, aber wenn ich mir einen neuen Titel zulege, dann den des Diplom-Tautologen oder den des Diplom-Pleonasten. Damit entschwinde ich endlich dem Stigma, das Diplom-Chemiker oft umgibt.

Sie sind Alleinautor eines guten Dutzends von bild der wissenschaft-Titelgeschichten. Die meisten davon handeln vom Werden des Menschen. Sie haben Ihren Spaß über die Paläoanthropologie zu schreiben?

Ja und nein. Ob es sich um die Entwicklung des modernen Menschen vor 100 000 Jahren im heutigen arabischen Raum handelt, den im Altai entdeckten Denisova-Menschen – eine Schwesterpopulation des Neandertalers. Oder um die erste menschliche Besiedlung von Europa. Oder um den großen Sprung in der Menschheitsgeschichte vor 2 Millionen Jahren, als unsere Vorfahren von Gejagten zu Jägern wurden: So etwas zu beschreiben und zu belegen und Infografiken dazu zu entwickeln, macht mir großen Spaß. Darüber hinaus trage ich gerne dazu bei, schiefe Bilder über unsere Vorfahren geradezurücken. Etwa Roland Emmerichs Hollywood-Spektakel „10.000 B.C.“ über die Mammutjagd unserer Vorfahren. Da stimmt so gut wie nichts mit dem Fakten überein. Das war einer der schlechtesten Filme, die ich mir im Kino je angesehen habe.

Jetzt haben Sie noch nicht erwähnt, warum Sie die Frage nach dem Spaß auch verneinen.

Ich quäle mich bis zum heutigen Tag beim Schreiben und komme nur sehr langsam voran. Am besten lief es, wenn ich Ruhe vor dem Redaktionsalltag hatte – also in der Zeit zwischen Weihnachten und dem Erscheinungsfest. Da konnte ich mir ein Tagespensum beim Schreiben zurechtlegen und hatte es am Abend dann meist auch erfüllt.

Ihre Liebe zu Landkarten ist legendär. Keine Aufmacherbesprechung, die Sie seit Jahren leiteten, ohne die Frage: „Und dazu gibt es sicherlich auch eine Karte?“

Ich liebe gut gemachte Karten. Es ist mir ein Vergnügen, mit den Augen darauf zu flanieren und dabei en passant interessante Informationen aufzunehmen. In dieser Beziehung waren Stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur stets einer Meinung.

Wie war das denn überhaupt mit der Meinung? Wie man hört, gab es da nie lautstarke Auseinandersetzungen.

Das ist auch nicht mein Stil. Ich sah mich immer als Stellvertreter des Chefredakteurs und handelte eigenverantwortlich, wenn er nicht zugegen war. In wichtigen Dingen informierte ich ihn stets und korrekt – auch über Dinge, die er einfach wissen sollte. Über die ganzen Jahre hinweg habe ich ihn nie im Urlaub mit unseren redaktionellen Dingen belangt. Nur zwei Mal schrieb ich ihm einen Brief, den er bei der Rückkehr von seiner Urlaubsreise zu Hause vorfand. In einem ging es darum, dass der ihm vorgesetzte Verlagsleiter gefeuert worden war, was ihm sicherlich Genugtuung brachte. Ich denke, dass ich ihn in seinen Urlauben in Ruhe gelassen habe, hat er sehr geschätzt. Wir haben uns auch in unregelmäßigen Abständen über private Dinge unterhalten, wobei er mitunter in Redefluss geriet und ich ihm einfach zuhörte. Ich wusste, dass er irgendwann abrupt stoppen und zur Tagesordnung übergehen würde.

Sie sprechen hervorragend Englisch, parlieren Französisch, als ob das ihre Muttersprache wäre, und kennen sich in vielen Entwicklungen der Welt bestens aus. Dennoch sind Sie bei bdw nicht als Weltreisender in Erscheinung getreten. Wenn Sie eine Dienstreise antraten, dann nach Blaubeuren und – wenn es weit war– nach Ludwigshafen. Auch Ihre Urlaube verbrachten Sie penetrant in der Bretagne oder in Südfrankreich. Warum?

Ach wissen Sie: Ich fühle mich zusammen mit meiner Frau in unserer Wohnung in Stuttgart am besten aufgehoben. An einem unbekannten Ort unterwegs zu sein, ist problematisch. Das fängt mit dem Essen an. Ich bin zwar nicht anspruchsvoll, aber dann doch wählerisch. Und wo, wenn nicht in Leinfelden gibt es noch gute Brezeln? Auch mit den Verkehrsmitteln habe ich so meine Schwierigkeiten. Die Stadtbahnen und Busse, mit denen ich fahre, kommen meist zu spät. Ein Auto steuere ich pflichtbewusst einmal im Jahr bei der Urlaubsreise. Sonst kämen wir dort ja nie an. Und wenn ich geflogen bin, wurde gestreikt oder der Flug wurde aus anderen Gründen gestrichen. Dann kommt da im Hause Ewe auch noch eine gewisse Flugangst dazu. Warum soll ich die Welt bereisen, wenn das andere für mich machen! Ich lese, höre und sehe, was sie erzählen, profitiere davon, habe keine unliebsamen Begegnungen und spare mir Kosten. Immerhin reisen wir jetzt nach Italien. Unser Sohn lebt dort und wer weiß, vielleicht ist dort bald seine Hochzeit …

Sie waren nach dem Abitur als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr. Dort verbrachten viele ihre letzten 150 Tage mit einem Maßband, das sie Tag für Tag abschnitten. Zählten Sie ihre letzten Tage bei bild der wissenschaft ebenso herunter?

Ein Maßband brauchte ich nicht. Damit wäre ich mir auch merkwürdig vorgekommen. Schließlich arbeitete ich bei bild der wissenschaft im Prinzip gerne. Dass die Wochen bis zu meinem Renteneintritt weniger wurden, erfreute mich natürlich. Die Möglichkeit, weitgehend das tun zu können, was man sich selbst aufträgt, ist in meinem Leben eine völlig neue Perspektive. Eva, meine Frau, wird mich hoffentlich gewähren lassen. Sie treibt ihren Sport, braucht dafür Zeit, und ich hab Ruhe für meine Interessen.

Sie haben sich jüngst als Rätselautor profiliert. Werden Sie bild der wissenschaft in diesem Segment weiter unterstützen?

Na ja, die Sache ist nämlich die: Ich bin jetzt erst einmal ein Jahr lang im vorgezogenen Ruhestand und darf in dieser Zeit kaum dazuverdienen. Auf der Basis eines 450-Euro-Jobs würde das zwar funktionieren. Doch den habe ich bereits bei „Frau im Spiegel“. Dort bin ich ab April Kolumnist für die neu geschaffene Rubrik „Fragen Sie Dr. Thorwald!“ Ich berate die Leserinnen in Fragen zum paläoanthropologischen Familienstammbaum, zu einer chemikalienfreundlichen Haushaltsführung sowie zur sinnbildenden Rückengymnastik am Arbeitsplatz. •

Text von Wolfgang Hess, Illustrationen von Ralf Butscher

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
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  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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Mul|ti|pli|kand  〈m. 16; Math.〉 die zu multiplizierende Zahl, z. B. die 3 in 2 x 3 [zu lat. multiplicandus … mehr

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