Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Betrug in der Wissenschaft

Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie

Betrug in der Wissenschaft
fruewald.jpg
Wolfgang Frühwald: Der Münchner Literaturwissenschaftler war von 1992 bis 1997 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Er hat mit einer internationalen Arbeitsgruppe die DFG-Regeln zur „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ erstellt.

Immer häufiger wird die Öffentlichkeit mit Betrug in der Forschung konfrontiert. Vor allem in den Biowissenschaften scheinen schwarze Schafe unter den Forschern eine nahrhafte Weide zu finden. Warum dies so ist und was getan werden muß, um die prekäre Lage zu verändern, beschreibt Prof. Wolfgang Frühwald.

In Bertolt Brechts berühmtem, auf den modernen Wissenschaftsbetrieb bezogenen Schauspiel „Leben des Galilei“ gibt es eine frappierende Szene. Ludovico Marsili, Privatschüler bei Galilei, beschreibt ein Rohr, das er in Amsterdam gesehen hat – in grünem Futteral, mit zwei Linsen, von denen eine vergrößert, eine verkleinert, und das Ergebnis ist, daß man durch das Ding alles „fünfmal so groß“ sieht.

Galilei erkennt sofort den Marktwert dieser ihm noch unbekannten Erfindung, und Ludovico wird wenig später Zeuge, wie Galilei der Republik Venedig seine neueste Erfindung überreicht: ein Rohr in einem karmesinroten Futteral, durch das man „alles fünfmal so groß“ sieht. Der große Mathematiker stellt es der Signoria als „Frucht siebzehnjähriger geduldiger Forschung“ vor, doch seinem Schüler flüstert er zu: „Ich habe es Verbessert.“ „Jawohl, Herr“, lautet die Antwort. „Ich sah, Sie machten das Futteral rot. In Holland war es grün.“ Als Galileis Tochter meint, sie glaube, daß doch alle mit ihrem Vater sehr zufrieden seien, sagt Ludovico: „Und ich glaube, ich fange an, etwas von Wissenschaft zu verstehen.“

Die Grenze zwischen dieser vorkritischen Wissenschaft und der kritischen Forschung aber verläuft dort, wo die wissenschaftliche Frage nach der Wahrheit abgelöst wird durch die rationale Frage nach der Wirklichkeit. Damit wird die Autorität des Traditions-Zitates abgelöst durch die seither unumschränkt herrschende Autorität des Zweifels – des Zweifels auch am eigenen Forschungs- und Beobachtungs-Ergebnis.

Anzeige

Im Februar 1999 erreichte mich über Internet ein Kettenbrief, der die Verfahren und die Gewohnheiten moderner Forschungsmessung, unter dem Stichwort „Darwin and Darwinism“ satirisch aufspießte. „Dear Fellow Scientist“ hieß es da: „Dieser Brief ist siebenmal um die Welt gegangen, er war bei vielen großen Konferenzen, jetzt kommt er zu Ihnen. Er bringt Ihnen Glück und Erfolg, wenn Sie seinen Instruktionen folgen: Nehmen Sie in Ihren nächsten wissenschaftlichen Aufsatz die unten angegebenen Titel wissenschaftlicher Arbeiten auf! Entfernen Sie das erste Titelzitat und fügen Sie in Ihren Aufsatz am Ende einen Titel hinzu. Machen Sie zehn Kopien und senden Sie diese an Kollegen!“ Da der Brief ein formgerechter Kettenbrief war, versprach er: Ich würde innerhalb eines Jahres unter Garantie zehntausendmal zitiert, „das wird Ihre Fachbereichskollegen verblüffen, Ihren Aufstieg beschleunigen und Ihr Sexualverhalten stimulieren“.

Der Brief ist lediglich halb satirisch aufzufassen, da er sich nämlich die berühmten Methoden quantitativer Forschungsmessung zunutze macht, die „fellow scientists“ mit den eigenen Waffen schlägt und belegt, wie leicht eine nur quantitative Forschungsmessung verfälscht werden kann. Der sogenannte Impact-Faktor sowie der Citation-Index – so belegt dieser Kettenbrief – sind keineswegs unbestechliche Normierungs-Instrumente, sondern stehen der Manipulation deshalb offen, weil sie in internationalen Ranglisten und Wettbewerben, bei Berufungen und der Verteilung von Fördermitteln inzwischen allzu häufig die inhaltliche Auseinandersetzung ersetzen. Sie taugen als unterstützende Instrumente, um innerhalb der internationalen Wettbewerbsspitze nochmals zu differenzieren. Doch als alleinige Wertungsmaßstäbe verwendet, verführen sie zu Zahlenspielen und leisten der Unredlichkeit Vorschub.

Wer sich um die Inhalte von Forschungspublikationen nicht mehr kümmert und nach nur quantitativen Faktoren oder gar nur nach Hörensagen urteilt, gibt die Fundamente der Wissenschaft preis. So hat zu Beginn der neunziger Jahre in den Geisteswissenschaften in einem rasch wachsenden neuen Fach eine Köpenickiade Aufsehen und Gelächter erzeugt: Händeringend hatten die Fakultät und die Berufungskommission in der ganzen Welt nach Kandidaten für einen neu errichteten Lehrstuhl gesucht, welcher der Universität Ansehen und Glanz verleihen und belegen sollte, wie nahe diese Hochschule der Wissenschaftsentwicklung auf den Fersen war.
Schließlich wurde man im Ausland fündig und berief, auf der Basis von Gutachten angesehener deutscher Ordinarien, den Experten aus der Ferne. Er sollte seine Kenntnisse für den Aufbau des Faches im rückständigen Deutschland einsetzen. Alle Berufungskriterien schienen erfüllt: Der Kandidat war nicht zu alt, dynamisch und beredt, durch eine lange Liste einschlägiger Publikationen ausgewiesen, hatte große Praxiserfahrung, war seinen deutschen Kollegen von vielen Kongressen wohlbekannt und sprach sogar leidlich Deutsch.

Alles schien in Butter, der Berufene lehrte mit Erfolg, Studenten strömten ihm und dem neuen Fach in Menge zu. Einer von diesen wollte sich auf das Examen vorbereiten und bestellte die Bücher des Professors zur Lektüre. In der heimischen Universitätsbibliothek waren sie nicht vorhanden, und die Fernleihscheine liefen und liefen und kamen schließlich ergebnislos zurück. Der Herr Professor hatte nämlich keines der von seinen bekannten deutschen Kollegen begutachteten und gelobten Bücher geschrieben. Das Ministerium reagierte schnell: Über Nacht kehrte der Professor dorthin zurück, wo er hergekommen war. Die öffentliche Diskussion hielt sich durch die rasche Lösung des Falles in Grenzen. Zum Skandal geriet dieser Fall erst durch ein Interview, das einer der deutschen Gutachter anschließend gegeben hat. Gefragt, wie er denn ein Gutachten über niemals geschriebene Bücher habe verfassen können, antwortete er: „Der Kollege konnte doch so interessant darüber erzählen.“

Seit in den sechziger Jahren die Lebenswissenschaften explodierten, wurden in einer riesigen Zahl von Experimenten das Innere des Lebens, die Genstruktur von Pflanzen, Tieren und Menschen erschlossen. Bei der Aufschüttung der Datengebirge gingen Wege und Stege verloren. Eine akzeptierte Lebens- und Evolutionstheorie gibt es nicht. Die vielen Methoden, Spezialisierungen, die Überschneidungen auf Grenzflächen tradierter Fächer bedingen eine Riesenzahl von Publikationen und Publikationsorganen: Über 8000 Fachzeitschriften werden allein in den Biowissenschaften gezählt. Nirgendwo ist der Wettbewerb, schon für Doktoranden, härter als in diesem auch von erfahrenen Gutachtern nicht mehr zu überschauenden Gebiet.
Nur die Erziehung zu strengster Redlichkeit wird in einem solchen explodierenden Gebiet Unredlichkeit und Betrug in tolerierbaren Grenzen halten.

Nicht die eindeutig erkennbaren Fälle von Betrug, Fälschung, Datenerfindung und Plagiat sind dabei das Problem, sondern eine weite Grauzone struktureller Unredlichkeit in einem internationalen Systemzusammenhang. Die Versuchung zur Unredlichkeit wird dort übermächtig, wo auch die Publikation von Forschungsresultaten selbst den Fachgenossen keinen Aufschluß über die gemachten Experimente mehr geben kann, sondern nur die enge persönliche Zusammenarbeit so viele Kenntnisse vermittelt, daß das von einem Kollegen gemachte Experiment nachgeprüft werden kann.

Amerikaner, Kanadier, Dänen und Deutsche haben inzwischen – in Zusammenarbeit mit den internationalen Fachgesellschaften – Regeln aufgestellt, die bei internationaler Beachtung die Grauzonen der Unredlichkeit aufhellen und die oft unbewußt mißachtete Redlichkeit wiederherstellen könnten. Doch diese Regeln greifen entschieden in die weltweit verbreiteten Beurteilungs- und Forschungsgewohnheiten großer wissenschaftlicher Gemeinschaften ein. Sie müssen daher weltweit gleichzeitig durchgesetzt werden, unterliegen also dem gleichen heterogenen Diskussionsprozeß, der etwa einer UN-Friedensmission vorausgeht.

Solche Regeln – zum Beispiel die Grundsätze der DFG zur „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ – zielen auf eine Bewußtseinsänderung. Sie zielen darauf, daß die strukturelle Unredlichkeit des aus vielen Faktoren bestehenden publish-or-perish-(„veröffentliche oder verende“)-Systems erkannt und eingestanden wird. Der Weg dorthin ist sehr weit. Eine nachhaltige Bewußtseinsänderung, die sich in einer Verhaltensänderung zeigen müßte, ist überhaupt noch nicht in Sicht.

Wolfgang Frühwald
Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Frau|en|arzt  〈m. 1u〉 Facharzt für Frauenkrankheiten u. Geburtshilfe; Sy Gynäkologe ( … mehr

Kie|sel|gel  〈n. 11; unz.; Chem.〉 kolloidale Lösung von Kieselsäure als Trockenmittel u. Träger von Katalysatoren; Sy Silikagel … mehr

Af|fekt|pro|jek|ti|on  〈f. 20; Psych.〉 Übertragung eigener Affekte auf andere Personen, Tiere od. Dinge

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige