Die Streitwagen, als erstklassige Angriffswaffe erkannt, waren in der Ramessiden-Zeit fester Bestandteil der Pharaonen-Armeen. Und so verwundert es nicht, daß Pusch in den achtziger Jahren auf Strukturen stieß, die sich nach und nach als die königlichen Pferdestallungen, Streitwagenremise, Waffenschmiede und Reparaturwerkstätten entpuppten. Die unerwarteten Funde öffneten den Ägyptologen neue Sichtweisen: Fast alles, was die Ägypten-Forschung bislang wußte – und daran kränkelte sie -, stammte aus Tempeln und Gräbern. Zum ersten Mal waren hier Archäologen ins profane Leben der Ägypter vorgestoßen.
Zunächst wiesen nur Einzelteile den vagen Weg. Einen Meter hohe Kalksteinpfosten mit einer Bohrung und starken Einschliffen ließen zunächst nur den Schluß zu: Hier wurde über lange Zeit mit einem Seil etwas angebunden. Löcher in regelmäßigen Abständen im Fußboden davor deuteten auf ein Drainagesystem. „Da war Phantasie gefragt“, erinnert sich Pusch, denn Stallungen waren bis dahin noch nie ausgegraben worden. „Trotzdem mußte ich ja mit diesen Funden irgendwie zurechtkommen.“
Er kam zurecht und seine Mitarbeiterin Anja Herold, Expertin für ägyptische Streitwagen und stellvertretende Grabungsleiterin, verhalf ihm zudem zu Zahlen: Über 300 „Jochgabelknäufe“ aus Stein wurden gefunden. Diese Teile des Zuggeschirrs wurden immer paarig und identisch bis hin zur Größe verwendet. „Wir haben aber keine identischen Paare gefunden“, betont Ägyptologin Herold. Für sie ist klar, warum: „Dies ist eine Werkstatt, die Knäufe waren kaputt und wurden hier repariert.“ Mithin standen in der Remise 260 Streitwagen, in den Stallungen konnten 400 bis 500 Pferde untergebracht werden – „das deckt sich“.
Zur Deckung brachten die Hildesheimer auch eine Wandmalerei aus dem Grab des mächtigen Wesirs Rechmire mit den archäologischen Funden unter der Streitwagengarage. Pusch: „Wir haben dort die größte bronzeverarbeitende Hochtemperatur-Industrieanlage ausgegraben, die es im Mittelmeerraum überhaupt gibt.“ Herold: „Wir liefern den Text zu den Wandbildern.“ Als Beleg dienen den beiden sechs Schmelzbatterien von 15 Meter Länge und vier 9 mal 9 Meter messende kreuzförmige Ofen, die sie seit 1983 aus dem Nilschlamm geholt , aber erst 1986 „erkannt“ haben.
Was die Ausgräber da mit großem Anspruch formulieren, schlägt tatsächlich eine bislang unbekannte Seite in der Technikgeschichte auf – und zwingt Archäologen zum Umdenken. Eine Szenerie im Grab des Rechmire in Theben-West schildert ausführlich die altägyptische Bronzeherstellung und -verarbeitung; ein kurzer Text erläutert die Darstellung: „… um zwei Türflügel zu gießen für den Tempel des Amun zu Karnak“.
Praktiker Pusch über theoretisierende Ägyptologen: „Herrschende Meinung war bisher: Das konnten die Ägypter nicht, dazu hatten sie nicht die Technologie, sie konnten solche Mengen gar nicht verarbeiten.“ Als Beweis wurde angeführt, daß bislang nicht ein einziges Bronzetor gefunden wurde. „Na und?“, kontert Pusch. „Von den unzähligen bronzenen Kirchentüren des europäischen Mittelalters sind auch nur wenige – in Hildesheim, Aachen, Rom – übriggeblieben. Die fehlenden wurden genauso recycelt wie im alten Ägypten.“
Mit Experten des archäologisch höchst aktiven Deutschen Bergbaumuseums in Bochum haben die Hildesheimer errechnet, daß in „ihrer“ Fabrik zu Zeiten Ramses II. Bronze tonnenweise hergestellt wurde und die Produktion eines Tages ausgereicht hätte, um eine Bronzetür mittelalterlicher Art zu gießen. Pusch kann sich gut vorstellen, daß die Neun-Meter-Kreuzöfen die Brennstellen für antike Bronzetore gewesen sind, „obwohl ich es nicht beweisen kann“. Auf alle Fälle geben diese Funde aus der Arbeitswelt – ebenso wie die militärischen Einrichtungen um die Streitwagen – einen „direkten Blick ins altägyptische Alltagsleben“, so Anja Herold.
Auch die 15-Meter-Schmelzbatterien zur Bronzeherstellung, die von vermutlich 40 Arbeitern betrieben wurden, stürzen das – europäische – Bild von den orientalischen Mini-Handwerksbetrieben. „Das war großindustrielle Herstellung von Metall“, postuliert Pusch. Schon die Pyramiden, rund 1500 Jahre vor den Ramessiden, waren die steinernen Ergebnisse einer Großindustrie. Die an die Schmelzanlage vermutlich anschließende, aber noch nicht zweifelsfrei gefundene Weiterverarbeitung der Bronze hatte dann ebenfalls großtechnischen Charakter.
Ein industrielles Gesamtkonzept scheint sicher, denn in den Schuttschichten unter den Stallungen fanden die Ausgräber im letzten Jahr eindeutige Überbleibsel einer weiteren Großproduktion: Zeitgleich mit der Bronze wurde in der Ramses-Stadt Glas hergestellt. Dabei wurden – betriebswirtschaftlich überaus sinnvoll – Ressourcen gemeinsam genutzt, Brennmaterial etwa und vor allem Kupfer.