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Schritt über die Schwelle

Erde|Umwelt

Schritt über die Schwelle
Wann ist der Mensch tot? Die moderne Medizin gibt dem Menschen die Chance, immer älter zu werden, doch am Ende jeden Lebens steht nach wie vor der Tod. Die Entscheidung allerdings, wann ein Mensch tot ist, wird durch die Medizintechnik immer schwerer gemacht.

Jahrhunderte galt die Gewißheit, daß ein Mensch tot ist, wenn sein Atem stillsteht und sein Herz nicht mehr schlägt. Heute können Maschinen Atmung und Kreislauf eines menschlichen Körpers jahrelang in Gang halten. Die Konsequenz hat der Mediziner Prof. Gundolf Gubernatis, Chirurg an der Medizinischen Hochschule Hannover und Sprecher der Deutschen Stiftung Organtransplantation, so zusammengefaßt: “Der Tod ist eine Verabredung auf der bestmöglichen Wissensbasis.”

Im Moment gibt es eine solche Verabredung nicht. Es ist ein verbreiteter Irrtum, daß der Bundestag am 25. Juni dieses Jahres in seinem Gesetz zur Organtransplantation beschlossen habe, wann ein Mensch tot sei. Die Abgeordneten haben lediglich den Hirntod eines Menschen als Mindestvoraussetzung dafür festgeschrieben, daß man ihm Organe entnehmen darf. Das bedeutet nicht, es existiere Einigung darüber, der Hirntod sei der Tod des Menschen.

Für extreme Vitalisten endet das Leben erst, wenn der Organismus an keiner Stelle mehr Energie aufwendet, um seinem Zerfall entgegenzuwirken. Die Basis ihrer Argumentation ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik – ein Naturgesetz, wonach jede Ansammlung von Materie bestrebt ist, sich möglichst gleichmäßig zu verteilen. Ohne Zufuhr von Energie gleichen sich mit der Zeit in jedem System alle Unterschiede von Temperatur und Dichte aus. Es ist Energie notwendig, um aus ungeordneten Bausteinen der Materie Strukturen wie Häuser oder Autos zusammenzufügen. Ohne dauernden Einsatz von Energie fallen sie wieder auseinander.

Leben ist ein Sonderfall der Natur, weil es sich selbst mit der Energie versorgen kann, die notwendig ist, eine organisierte Struktur gegen den Trend zum größtmöglichen Ausgleich entstehen zu lassen und für eine gewisse Zeit stabil zu halten. Der Tod tritt nach dieser Auffassung erst in dem Moment ein, in dem die letzte Zelle die Fähigkeit verliert, die Moleküle des Organismus zu einer funktionierenden Ordnung zusammenzuhalten.

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Den Vitalisten gegenüber stehen die Mentalisten. “Sollen wir die Lebensvorgänge zwischen den Organen unseres Körpers mit menschlicher Lebendigkeit verwechseln”, fragt Dr. Johann F. Spittler, Neurologe an der Universität Bochum und Mitarbeiter im Zentrum für medizinische Ethik. Und Prof. Heinz Angstwurm von der Münchener Universitätsklinik Großhadern widerspricht der Ansicht, Hirntote seien Sterbende: “Der Sterbeprozeß des Menschen ist mit dem Tod des Gehirns beendet.”

Mediziner stehen mit dieser Auffassung nicht allein. Prof. Eberhard Schockenhoff, Moraltheologe an der Universität Freiburg ist überzeugt: “Ein Hirntoter mit schlagendem Herzen ist kein Sterbender mehr, sondern eine Leiche mit künstlich aufrechterhaltener partieller Organfunktion.” Und Bischof Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz schrieb: “Es kann kein Zweifel bestehen, daß der Hirntod zwar nicht gleichzusetzen ist mit dem Tod des Menschen schlechthin, aber er ist reales Zeichen des Todes der Person.”

Die Kriterien für diesen Tod hat die Bundesärztekammer festgeschrieben, und sie müssen immer von zwei Ärzten bestätigt werden, die beide nicht einem gegebenenfalls wartenden Transplantationsteam angehören dürfen.

Voraussetzung für die Diagnose ist, daß die Pupillen sich bei Lichteinfall nicht zusammenziehen, daß der Patient nicht würgt oder hustet, wenn er im hinteren Rachenraum gereizt wird, und daß er auch an empfindsamen Körperstellen keine Zeichen von Schmerz zeigt. Außerdem darf er bei vorübergehender Abnahme des Beatmungsgerätes nicht mehr selbsttätig atmen. Diese Todeszeichen werden als unwiederruflich akzeptiert, wenn sie nach 12 Stunden immer noch bestehen, oder wenn eine Untersuchung der Hirnströme (EEG) oder der Hirndurchblutung (Angiographie) keine Aktivität mehr zeigt.

Die Frage, wann ein Mensch tot ist, wurde in der Menschheitsgeschichte immer wieder neu gestellt und anders beantwortet. Die Mediziner der ägyptischen Hochkultur glaubten zwar an ein Wiedererwachen ihrer Pharaonen im Jenseits, sie kratzten ihnen aber bei der Präparation für den Weg dorthin das Gehirn aus den Schädeln, weil sie es für unwichtig ansahen. Heute lassen Menschen ihren Kopf in flüssigem Stickstoff konservieren, weil sie hoffen, daß man in ein paar Jahrzehnten gesunde junge Körper klonen und ihr Gehirn darin wieder aufwecken kann.

Das klingt abstrus. Aber den Zeitpunkt des Todes, den letzten Schritt über die Schwelle des Lebens hinaus, endgültig zu definieren, ist nicht möglich, das hat die moderne Medizin bewiesen. Was jede Generation erreichen kann, ist ein gesellschaftlicher Konsens, eine akzeptierte Mehrheitsmeinung. Aber eine Mehrheitsmeinung ist keine für alle Zeiten gültige Wahrheit. Der Tod ist eine Verabredung. Verabredungen kann man ändern.

Jürgen Nakott
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