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Die vierte Revolution

Gesellschaft|Psychologie Technik|Digitales

Die vierte Revolution
In der Fabrik von morgen sind Bauteile, Produkte und Maschinen komplett miteinander vernetzt. Deutschland treibt diese Entwicklung weltweit führend voran.

Auf der Hannover Messe Industrie im April war es das zentrale Schlagwort, das viele Aussteller und Messebesucher elektrisierte: Industrie 4.0. Ein griffiges Kürzel, das nach Ansicht von Produktionsexperten für einen Umsturz in den Fabriken steht, der die Art, wie Waren produziert werden, radikal verändern wird. Doch das Thema bewegt nicht nur Fachleute aus der Industrie, wie eine kurze Suche im Internet beweist: Nach 0,45 Sekunden zeigt Google fast 200 000 Ergebnisse an. Industrie 4.0 steht für die vierte industrielle Revolu- tion – nach der Einführung der Dampfmaschine (1.0), des Fließbandes (2.0) und des Computers (3.0) in der Industrie.

Seit Ende 2011 beschäftigt sich Dagmar Dirzus, Geschäftsführerin der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik aus Düsseldorf, mit dem Thema. Für die Wissenschaftlerin ist Industrie 4.0 die „komplette Vernetzung aller Teilnehmer an der Wertschöpfung: aller Bauteile, Produkte, Maschinen, Produktions- und Managementsysteme, Mitarbeiter bis hin zu den Dienstleistungen über den gesamten Lebenszyklus“.

Kommunizierende Küchenteile

Auf dem Weg zu 4.0 sind nicht nur Institute, Hochschulen und Konzerne, sondern auch ein bodenständiger ostwestfälischer Hersteller aus Verl bei Gütersloh. Bei Nobilia, nach eigenen Angaben der größte Küchenhersteller in Europa, entstehen pro Jahr rund 580 000 komplett mit sämtlichen Elektrogeräten bestückte Küchen. Betriebsleiter Martin Henkenjohann betont: „Wir liefern die Küchen mit einer Liefertreue von 99,8 Prozent weltweit zum gewünschten Termin aus.“ Dieses Ziel erreicht Nobilia nur mit einem ausgeklügelten Produktionssystem. Denn eines der größten Probleme ist die Vielfalt: Fast jede Küche ist ein Unikat. Viele Bauteile wie Schubladen oder Schranktüren sind Spezialanfertigungen.

Die Produktionsanlage holt sich vom Computer des Küchenkonstrukteurs beispielsweise alle Daten zum Herstellen der Schubladenteile und ihrer späteren Montage. Alle Bauteile erhalten Strichcode-Etiketten, die Mitarbeiter – ähnlich wie Supermarkt-Kassiererinnen – mit einem Lesegerät scannen. Allerdings wäre es zu aufwendig und zu teuer, jeden Arbeitsplatz mit einem manuellen Scanner auszustatten. Daher ersetzen die Ostwestfalen die Strichcodes zum Teil durch winzige Funketiketten (RFID-Tag), die Produktionsdaten auf einem Chip speichern. Dank der lückenlosen Überwachung per Funk wird verhindert, dass die falsche Schublade in eine Küche kommt. Und durch die RFID-Tags erhält das Planungssystem alle 30 Sekunden von allen Stationen über 1200 Antennen Meldungen über den Produktionsfortschritt: Die Betriebsleitung kennt stets den Stand der Dinge und kann schnell gegensteuern. Eine enorme Leistung, denn das System muss jeden Tag 20 Millionen Daten verarbeiten.

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Beim Maschinenhersteller Trumpf aus Ditzingen bei Stuttgart werden Funketiketten ebenfalls trickreich genutzt: Klaus Bauer, Leiter der Abteilung Systementwicklung von Basistechnologien, sah es als enorme Zeitverschwendung an, dass optische Linsen von Lasern nach jedem verschleißbedingten Wechsel umständlich neu eingestellt werden müssen. Trumpf erfand daher eine intelligente Fokussierlinse, die sich selbst justiert. Dazu erhielt die Linse ein Funketikett (RFID-Tag), auf dem sich alle wichtigen Informationen – also Brennweite und korrekte Einbaulage – zum Einstellen befinden. Der Bediener muss nur noch die Lensline RFID in das Lasersystem stecken, der Rest geschieht automatisch, ähnlich wie beim Anschluss eines neuen Druckers an einen Computer. Trumpf speichert auch die Einsatzzeiten auf dem RFID-Tag: Der Maschinenbediener erhält rechtzeitig Informationen, wann er eine Linse reinigen oder wegen Verschleiß auswechseln soll.

Schwarmintelligenz in der Lagerhalle

Und wie könnte die perfekte Fabrik 4.0 aussehen? Konkrete Ideen dazu entstehen zurzeit in kleinen wissenschaftlichen Modellfabriken am Dortmunder Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML). Die Lösungen dort sollen bezahlbar und leicht realisierbar sein. Michael ten Hompel, Geschäftsführender Institutsleiter, verwendet in seiner Versuchsanlage Sensoren und Elektronik mit geringem Stromverbrauch und Systeme, die elektrische Energie aus natürlichen Quellen wie Umgebungstemperatur gewinnen, per sogenanntem Energy Harvesting. Die Westfalen haben damit eine Logistik-Versuchsanlage mit 50 völlig autonom fahrenden Mobilen gebaut, die mit 3-D-Lasertechnik ihre Umgebung scannen und sich so orientieren. „Sie bewegen sich mit echter Schwarmintelligenz selbstständig – ohne irgendeinen Leitdraht im Boden“, erklärt ten Hompel.

Unter Schwarmintelligenz oder Kollektiver Intelligenz verstehen die Forscher sinnvolle Handlungen, die durch das geschickte Zusammenwirken von vielen Lebewesen oder Robotern zustande kommen. Die Fahrzeuge fahren ins Regal, bestellen Ware, die per Lift ausgeliefert wird, und bringen sie zur entsprechenden Produktionsinsel. „Das ist heutige Logistik – intelligentes Bewegen im Schwarm“, freut sich der Fraunhofer-Institutsleiter. „Das ist kein Hexenwerk.“

Die Kosten teilen sich alle

Ob Schwarmintelligenz, selbstjustierende Linsen oder funkende Schubladen – der gemeinsame Nenner ist: Industrie 4.0 benötigt zum zentralen Speichern eine sogenannte Datenwolke oder Cloud. Doch zum Schützen und Sichern bedarf es sehr teurer, professioneller Software, die sich viele Mittelständler nicht leisten können. Eine preiswerte Alternative entsteht zusammen mit Industriepartnern beim Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA): Die Schwaben entwickeln aktuell ein „Virtual Fort Knox“ für das produzierende Gewerbe, bei dem sich alle daran beteiligten Unternehmen die Kosten teilen.

Richtig interessant wird das Genossenschaftsmodell dank der sogenannten Apps: Sie lassen sich beispielsweise zum Erfassen und Auswerten von Maschinendaten in Echtzeit nutzen. „Die Einführung eines Manufacturing Executive System (MES) dauert heute gut ein Jahr“, sagt Institutsleiter Thomas Bauernhansl. „Bei uns können Sie sich dagegen innerhalb kürzester Zeit eine MES-App herunterladen, die Datenverbindung herstellen und die Daten in die Cloud laden.“

Training live und in Farbe

Und welche Rolle spielt bei 4.0 der Mensch – wird er überhaupt noch gebraucht? Den Albtraum mancher Kritiker von der menschenleeren Fabrik teilt Siemens-Vorstand Siegfried Russwurm nicht. Er spricht von einer wachsenden Bedeutung des Mitarbeiters in der Fabrik von morgen. Gefragt sei allerdings hoch qualifiziertes Personal, während man angelernte Arbeitskräfte langfristig wohl kaum mehr bräuchte. Doch auch gering Qualifizierte haben eine Chance: So hat der Spezialist für Aus- und Weiterbildung Festo Didactic Anlagen entwickelt, auf denen Mitarbeiter den Industrie-4.0-Alltag live, in Farbe und gefahrlos trainieren können, um sich für höherwertige Tätigkeiten zu qualifizieren. Das kann extern geschehen, im Idealfall aber besser intern in einer eigenen, kleinen Lernfabrik.

Fest steht: Gut geschulte Fachkräfte werden gebraucht. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) setzt dabei auf „selbstorganisierte Personaleinsatzplanung à la Industrie 4.0″ . Dazu haben Forscher im BMBF-Projekt KapaflexCy unter dem Motto „ Smartphone schlägt Stechuhr“ nützliche Apps entwickelt. Mit ihnen können die Mitarbeiter auf ihrem Handy eine Einsatzanfrage mit exakten Angaben etwa zum Arbeitsinhalt, Auftrag und Kunden sowie zur Bezahlung empfangen.

Jedem Mitarbeiter wird zudem anhand seines Zeitkontos angezeigt, wie viel Kapazitäten er noch frei hat. Er kann sich dann per App um Sonderschichten bewerben. Laut den Projektbeteiligten lässt sich die Aufgabe per Smartphone oder Tablet-Computer technisch leicht lösen. Zu klären sei aber noch die Arbeitssicherheit: Wann darf der Mitarbeiter „angemailt“ werden: Kann eine Smartphone-Anfrage den Werker an der Maschine in gefährlicher Weise von seiner Arbeit ablenken?

Die neue smarte Fabrik könnte auch einen ganz anderen Umgang mit Energie ermöglichen. So regt Trumpf-Systementwickler Klaus Bauer an, Industrie 4.0 zur Vernetzung mit der Energieversorgung zu nutzen. Seine Idee: „Warum sollte die in der Maschine entstehende Energie nicht gespeichert und ins Netz eingespeist werden, um dafür Geld zu bekommen?“ Das ist kein Wunschtraum, sondern wird bereits ansatzweise in einer neuen Fabrik des Unternehmens verwirklicht.

Industrie 4.0 ist also deutlich mehr als ein griffiges Schlagwort. Immer wieder erhalten deutsche Spitzenmanager entsprechende Anfragen aus dem Ausland. Und Ende Oktober 2013 hielt Siemens-Vorstand Russwurm in Peking einen Vortrag vor der angesehenen „Chinese Academy of Engineering“ zu dem Thema. Die Deutsche Welle dort sendete seinen Kommentar: „In China ist man hochgradig an Industrie 4.0 interessiert. Die deutschen Hersteller und auch die deutschen Wissenschaftsinstitute, die daran arbeiten, werden weltweit als Vorreiter gesehen. Und das zu Recht, davon bin ich fest überzeugt.“ •

von Nikolaus Fecht

Von der Spinnmaschine zum Internet der Dinge

1754 war das Geburtsjahr der heutigen Arbeitswelt, in der Produkte in Fabriken gefertigt werden. Der englische Weber James Hargreaves hatte mit der Spinning Jenny die industrielle Spinnmaschine erfunden, die später von Dampf- oder Wasserkraft angetrieben wurde. Die erste industrielle Revolution trat dann im 19. Jahrhundert von England aus den weltweiten Siegeszug an. Lange waren die Produktionsstätten handwerklich geprägt. Das Ende der Manufakturen läutete Henry Ford ein, als er 1913 in Detroit die erste Fließbandproduktion der Welt startete. Industrie 2.0 machte aus Handwerksbetrieben Fabriken, in denen in Großserie preiswerte Produkte entstanden.

Der Einsatz von Elektronik ermöglichte um 1960 die Automatisierung der Produktion: Transistoren und erste Chips ließen schnelle, kleine und leistungsfähige Computer entstehen. Sie dienten in der Industrie zunächst als Werkzeuge zum Zeichnen und Konstruieren (Computer Aided Design: CAD), später lenkten sie die komplette Fertigung (Computer Aided Manufacturing: CAM). Nach CAD und CAM folgte die Vision von der elektronisch geregelten Herstellung: Das neue Schlagwort: „Computer Integrated Manufacturing (CIM)“. Viele Forscher und Industrielle wechselten mit wehenden Fahnen ins digitale Lager – vor allem Automobilhersteller, die früh zentral geregelte, automatische Produktionsstrecken einführten. Skeptiker konnten sich allerdings nicht für diesen digitalen Zentralismus begeistern und sprachen vom „CIMsalabim“.

Die dritte Revolution (CIM) hat unseren Alltag geprägt: Es gibt keine Fabrik mehr, die ohne integrierte Computer ihre Fertigung lenkt. Der Aufwand hat sich gelohnt: Laut einer Studie der Unternehmensberatung A.T. Kearney und des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) konnten Firmen ihre Herstellungskosten für Produkte dank CIM um rund 40 Prozent senken.

Der Schritt zur vierten industriellen Revolution folgt nun. Am 19. Dezember 2011 verabschiedeten das Bundesforschungs- und das Bundeswirtschaftsministerium das Programm „Industrie 4.0″. Das Ziel: Deutschland soll den Weltmarkt mit „cyber-physischen Produktionssystemen“ erobern. Diese „CPPS“ vernetzen konventionelle Produktionsverfahren mit der Informations- und Kommunikationstechnologie so, dass intelligente Maschinen, Anlagen, Bauteile und Produkte wie im Internet miteinander kommunizieren. Fachleute reden daher auch vom „Internet der Dinge“ .

Kompakt

· Durch die Vernetzung in der Fertigung lässt sich die Termintreue deutlich steigern.

· Funketiketten (RFID-Tags) helfen bei Kontrolle und Steuerung der Produktion.

· Gering qualifizierte Arbeiter werden durch Industrie 4.0 überflüssig.

Mehr zum Thema

Internet

„Zukunftsbild Industrie 4.0″, Infos vom BMBF: www.bmbf.de/de/9072.php

„Cyber-Physical Systems: Chancen und Nutzen aus Sicht der Automation“ (Positionspapier von VDI und VDE): www.vdi.de/uploads/media/Stellungnahme _Cyber-Physical_Systems.pdf

Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik: www.iml.fraunhofer.de

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