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Zielgenau zum Krebsherd

Gesundheit|Medizin Technik|Digitales

Zielgenau zum Krebsherd
Mithilfe einer neuen hochpräzisen Navigationstechnik lassen sich Tumore und Metastasen in komplexen Organen wie der Leber leichter entfernen.

Bevor der Chirurg im Operationssaal zum ersten Schnitt ansetzt, um Tumore oder Zysten zu entfernen, muss er punktgenau wissen, wohin die Reise geht. Die Angaben dazu holt er sich auf einen Bildschirm neben dem Operationstisch. Röntgenbilder und Aufnahmen, die mittels Computer- oder Magnetresonanztomografie (CT oder MRT) gemacht wurden, liefern Details zu der Lage von Knochen, Gefäßen, Muskeln und der Geschwulst im Körper.

Doch selbst mit den modernsten bildgebenden Verfahren stoßen die Chirurgen mitunter an Grenzen. Denn es gibt Tumore in komplexen Organen, die die Mediziner sich nicht zu behandeln trauen – auch wenn sie die Geschwulst auf Bildern exakt orten können. Ein solches Organ ist die Leber, ein Schwergewicht im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Mit 1,5 Kilogramm ist sie das massivste Organ im menschlichen Körper – und in ihrer Vielfältigkeit wird sie lediglich vom Gehirn übertroffen.

Als lebendes biochemisches Labor wandelt die Leber die Nährstoffe aus dem Magen-Darm-Trakt radikal um, damit sie der Körper als Lebensenergie in Form von Glykose, einer Zuckerverbindung, aufnehmen kann. Diesen Stoffwechsel wickelt die Leber mithilfe zahlreicher verschiedener Blutgefäße ab. Die Nährstoffe erreichen das Organ über die Pfortader, werden dort entgiftet, in andere Substanzen umgewandelt und danach in der Leber eingelagert, bis sie über die Hohlvene in den Körperkreislauf gelangen. Für diese aufwendigen Prozesse benötigt die Leber sehr viel frisches Blut.

Das Herz schickt über die Leberarterie in jeder Minute rund 1,5 Liter des Lebenssafts – und wendet dafür ein Viertel seiner Pumpleistung auf. Außerdem produziert die Leber Galle, die sie in einem speziellen Gefäßsystem in die Gallenblase leitet. Galle ist jener Saft, der es dem Darm ermöglicht, Fette zu verdauen.

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Routinesuche nach Metastasen

So bekommt die blutdurchströmte Leber stets genau mit, was im Körper abläuft. Das hat auch Nachteile: Bildet sich irgendwo ein Krebsgeschwür, dauert es nicht lange, bis über das Blut ein Ableger in die Leber vordringt und sich dort einnistet. Routinemäßig wird heute bei den meisten Krebsdiagnosen auch nach Metastasen in der Leber gesucht. Sind sie vorhanden, bereiten sie den Operateuren häufig Kopfzerbrechen. Wo die Metastasen in der Leber genau sitzen, erfährt der Chirurg per Computertomografie oder – anschaulicher – nach wenigen Tagen aus hochgerechneten 3-D-Bildern. Darauf sieht er oft etliche gelb markierte Metastasen an schwer zugänglichen Stellen, halb verdeckt von blau gefärbten Blutgefäßen.

Der Arzt zögert dann oft, dort das Messer anzusetzen oder mit der Ablationsnadel einen Blindflug in die Leber zu wagen, um die Krebsableger mit Hitze zu veröden. Denn der Schaden, den er dabei anrichten kann, droht viel größer zu sein als der Nutzen, weil bei dem komplizierten Eingriff lebenswichtige Blutgefäße verletzt werden können. Deshalb gelten heute von weltweit jährlich rund 500 000 Patienten mit Lebermetastasen etwa 350 000 als operativ nicht behandelbar. Sie erhalten bis zu ihrem Tod nur schmerzlindernde palliative Medikamente.

In sieben europäischen Krebszentren – darunter deutsche Kliniken in Hamburg, Mainz und Stuttgart – sowie in einem Zentrum in Brasilien gibt es nun neue Hoffnung für diese Patienten. Denn dort ließen sich Chirurgen auf einem innovativen Navigationsgerät schulen, das Schweizer Forscher aus Bern entwickelt haben. Damit ist es möglich, während einer Operation die zuvor erstellte 3-D-Darstellung der Leber etwa mit der veränderten Lage des Patienten auf dem Operationstisch in Übereinstimmung zu bringen. Mit der neuartigen Navigationshilfe kann der Chirurg das Skalpell oder die Ablationsnadel sicher und zielgenau zum Krebsherd führen, ohne dabei Gefäße zu verletzen.

Als der Londoner Leberchirurg Massimo Malago diese Navigationstechnik vor gut zwei Jahren erstmals sah, war er sofort überzeugt, dass sie die Arbeit seiner Kollegen radikal verändern werde: „Junge Chirurgen werden damit in kurzer Zeit zu Experten”, meint er und rät: „Nutzen wir diese Entwicklung, um sicherer zu operieren!”

Wichtige Nerven außer Gefahr

Es war kein Zufall, dass gerade in Bern der Weg dahin geebnet wurde. Vor über einem Jahrzehnt begannen sich dort Mediziner am Institut für Biomedizinische Technologie und am Artorg Center des universitären Inselspitals auf Navigationstechniken für Hirn- und Wirbelsäulenoperationen zu spezialisieren. Die von den Berner Medizinern entwickelten Verfahren ermöglichen es, medizinische Instrumente sicher durch die Schädeldecke zu führen oder heikle Eingriffe an der Wirbelsäule vorzunehmen, ohne dass wichtiger Nerven beschädigt werden könnten.

Die Navigation für den OP funktioniert ähnlich wie das GPS-Navi im Auto. Statt Satelliten wie beim GPS befindet sich über dem Operationstisch eine Stereokamera, die auf das Operationsfeld gerichtet ist. Und statt eines Straßenabschnitts zeigt der Bildschirm die per CT errechnete 3-D-Darstellung des Körperinneren. Die Kamera verfolgt präzise das Instrument in den Händen des Chirurgen, während dieser den Patienten operiert. Dazu sitzen auf dem OP-Besteck drei lichtreflektierende Kugeln, über die sich die Position der Instrumente millimetergenau berechnen und mit der 3-D-Aufnahme vergleichen lässt. Mithilfe der Darstellung auf einem Bildschirm kann der Chirurg seine Instrumente sicher im Körper führen.

Das funktioniert gut, solange das Operationsfeld mit dem Ausschnitt auf der 3-D-Darstellung übereinstimmt. Verändert oder verschiebt sich das Operationsfeld aber, ergeht es dem Chirurgen wie einem Fahrzeuglenker, der von seinem Navi in eine Sackgasse oder Einbahnstraße geleitet wurde, weil der aktuelle Straßenverlauf nicht mehr mit dem Karteneintrag übereinstimmt. Bei der Leber ist eine solche Veränderung nicht zu vermeiden. Sie ist ein weiches, geschmeidiges Organ, das sich leicht verformt, wobei sich seine Blutgefäße elastisch dehnen und gegeneinander verschieben. Sobald der Chirurg die Bauchdecke öffnet, deformiert sich daher die Leber und muss zunächst mit der genauen Darstellung auf dem Monitor in Übereinstimmung gebracht werden.

Der Biomedizin-Ingenieur Stefan Weber, der von der TU München ins Team am Artorg Center kam, brachte erste Ansätze mit, um dieses Problem zu lösen: Er verwendet Ultraschall, mit dessen Hilfe sich Vorgänge im Körperinneren in Echtzeit abbilden lassen. Ultraschall wird seit mehr als 50 Jahren genutzt, um Organe wie das Herz während der Bewegung zu untersuchen. Die meisten schwangeren Frauen sehen heute ihr im Bauch heranwachsendes Kind zum ersten Mal per Ultraschall. Die hochfrequenten Schallwellen, die den Körper durchdringen, werden überall dort reflektiert, wo sich die Gewebedichte ändert – vorzugsweise an Stellen, wo verschiedene Gefäße oder Organe aufeinandertreffen.

Stefan Webers Idee erwies sich als richtig, doch die technische Umsetzung war knifflig. Aussagekräftige Ultraschallmessungen sind nur während der Operation direkt an der Leber möglich. Anfangs war zudem unklar, welche Teile der Leber als markante Punkte per Ultraschall anzupeilen sind, um das Organ mit der computertomografischen 3-D-Darstellung synchronisieren zu können.

Eine enge Zusammenarbeit mit Chirurgen war unabdingbar, um das Verfahren praxisreif zu machen. „Wir hatten das Glück, mit Daniel Candinas einen Chirurgen zu finden, der dieser neuen Technik aufgeschlossen gegenüberstand”, sagt Weber. Viszeralchirurg Candinas, Leiter des Bauchzentrums im Berner Inselspital, betont, dass manche Eingriffe ohne exakte Orientierung über bildgebende Verfahren gar nicht denkbar sind: „Es gibt Tumore, die wir mit den bisherigen Methoden kaum lokalisieren können und die sich nicht von gesundem Gewebe unterscheiden lassen.”

Zwei Monitore am OP-Tisch

Den größten Teil der rund vier Jahre dauernden Entwicklungszeit des Leber-Navigationssystems leistete der Elektrotechniker Matthias Peterhans im Rahmen seiner Doktorarbeit. Bis heute ist Peterhans oft bei Operationen präsent. So begleitete der Experte die Berner Chirurgin Pascale Tinguely bei einem Eingriff mit dem Ziel, bei einer 40-jährigen Patientin 30 Metastasen in der Leber mittels Ablationsnadel zu veröden. Zuvor war der Patientin bereits in einer ersten Operation der Primärtumor entfernt worden, der einen Darmverschluss verursacht hatte.

Während der Leberoperation waren zwei Bildschirme an der Front des Operationstischs installiert. Als der Bauchraum der Patientin geöffnet war, zeigte der linke Bildschirm die 3-D-Ansicht der Leber mit den stark verzweigten Ästen der blau gefärbten Blutgefäße, hinter denen die gelb markierten Metastasen zu erkennen waren. Akribisch fuhr Tinguely mit der Ultraschallsonde mehrmals über die Leber, auf der Suche nach markanten Punkten. Den Verlauf ihrer Suche konnte sie währenddessen auf dem rechten Bildschirm live verfolgen.

Hatten die Artorg-Ingenieure anfangs markante Außenformen als Orientierungspunkte im Visier, so zeigte die Erfahrung im Operationssaal, dass solche Markierungen nicht immer verlässlich und präzise genug sind. Stattdessen gelang es, Blutgefäße im Inneren der Leber durch Ultraschall zu erkennen, was die Präzision deutlich verbesserte: „Beim Abgleich der Ultraschalldaten mit den CT-Daten sind wir jetzt rund fünf Millimeter genau”, sagt Pascale Tinguely – auch weil das System inzwischen in der Lage ist, 20 Ultraschallbilder pro Sekunde zu analysieren.

Es dauerte eine Weile, bis die Chirurgin die geeignete Stelle gefunden hatte und die Nadeln für die Verödung ansetzen konnte. Bei jedem Einstich wechselte ihr Blick vom Bildschirm zum Operationsfeld. Ab und zu zeigte Peterhans auf dem Touch-Monitor die Leber in einer anderen vom Navigationssystem erstellten Perspektive. Wie eine Pilotin, die zum Instrumentenanflug auf eine nebelverhangene Piste ansetzt, orientierte sich Tinguely an den Bildschirmdaten. Eine am rechten unteren Rand eingeblendete Zielscheibe zeigte Form und Umfang der Metastase und half, die Nadel im richtigen Winkel und in die richtige Tiefe einzuführen.

So gelang es der Ärztin, den größten Tumorableger mit zwei Zentimeter Durchmesser zu veröden. Am schwierigsten war es, mehrere Metastasen unschädlich zu machen, die sehr tief saßen. Peterhans richtete dazu das 3-D-Modell auf dem Bildschirm auf einen besonders guten Zugang aus und grenzte jene Blutgefäße auf dem Modell ab, die der Ultraschall in der Leber zum Abgleich ausfindig machen sollte. Tinguely fuhr dann mit der Sonde ein paar Mal über die betroffene Leberstelle, bis das System die Gefäße erkannt hatte. Auf diese Weise konnte sie das Ultraschallbild mit dem Modell kombinieren – und es gelang ihr, die Metastasen an der heiklen Stelle zu veröden. Inzwischen wurde das System, die sogenannte Cascination, auch an der Universitätsmedizin Mainz eingeführt. Kosten: rund 150 000 Euro.

Zudem hat das Team von Matthias Peterhans und Stefan Weber mit der „interventionellen Radiologie” ein weiteres Anwendungsgebiet für die Körper-Navigationstechnik erschlossen. Erscheint eine Operation zu riskant, nimmt der Radiologe die operative Entfernung bei Leber-, Lungen- oder Nierenmetastasen direkt durch die Haut vor. Bisher mussten die Mediziner dafür den richtigen Ort anhand einer CT-Darstellung anpeilen, danach das Resultat über ein erneutes CT kontrollieren und falls nötig korrigieren.

Das neue OP-Navi aus Bern ermöglicht jetzt ein genaueres und weniger strahlenbelastendes Vorgehen. Dazu werden für die Ablation auf der Haut des Patienten Markierungspunkte angebracht, und anschließend folgt eine Untersuchung per Computertomografie. Aus der CT-Aufnahme erstellt die Cascination-Software ein dreidimensionales Modell mit den Markierungen, von denen aus der Winkel und die Tiefe für die Ablationsnadel genau berechnet werden. Beim Eingriff unterstützt dann das Navi den Arzt. Für das System dürften sich wohl bald auch Lungen- und Nierenkrebsspezialisten interessieren. •

Text von Christian Bernhart, Fotos von Chris Blaser

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Internet

Informationen zum neuen System für „Computer Assisted Soft Tissue Surgery”: www.cascination.com

Inselspital (Universitätsspital Bern) und das dortige Artorg Forschungscenter: www.insel.ch www.artorg.unibe.ch

Ohne Titel

CHRISTIAN BERNHART war dabei, als mit dem neuen System operiert wurde. Klar ist, dass nach wie vor der Verstand und die sichere Hand des Arztes wichtig sind.

Kompakt

· Bisher war es häufig zu riskant, Tumore in der Leber zu entfernen.

· Mithilfe von Computertechnik lassen sich nun mehr Krebspatienten operieren.

· Die Basis des neuartigen Systems sind Ultraschallaufnahmen während der OP.

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