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Gläubige Gehirne

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Gläubige Gehirne
Was geschieht im Kopf religiöser Menschen? Neurowissenschaftler haben Erstaunliches herausgefunden.

„Ich war ein Fleck auf dem schönen Flügel eines Schmetterlings, umgeben von Millionen anderer Schmetterlinge“, glaubt sich Eben Alexander zu erinnern. Der Neurochirurg hatte das „Universum verlassen“, taumelte durch eine schwarze Leere und fühlte sich dann vereint mit „der Göttlichen Präsenz“. Engel, Wolken, verstorbene Verwandte, aber auch schöne junge Frauen und Schmetterlinge bevölkerten die Ewigkeit. Eben Alexander schwärmt: „Der Ort war real – so real, dass im Vergleich dazu das Leben hier wie ein Traum ist.“

Ähnliche „Nahtoderfahrungen“ machen jährlich Tausende. Manchen Schätzungen zufolge gibt es allein in den USA mehrere Millionen Menschen, die glauben, einen Blick hinter den Spiegel des Lebens geworfen zu haben. Doch während das subjektive Phänomen real sein mag, ist seine Deutung weit hergeholt – gewissermaßen aus dem Jenseits. Zwingend ist sie keineswegs.

Ein totes Hirn erzählt nichts

„In einem luziden Traum, Drogenrausch oder in meditativer Versenkung gibt es ähnliche Halluzinationen“, sagt Sam Harris. Wie der Neurowissenschaftler von der University of California in Los Angeles (UCLA) sind die meisten Forscher und Philosophen davon überzeugt, dass solche Erlebnisse eben keine Nachtoderfahrungen sind – und auch nicht sein können, denn ein totes Gehirn erzählt nichts mehr. Daher verraten die dramatischen Erlebnisse nichts über eine Hinterwelt, dafür aber einiges über die Innenwelt des Gehirns unter extremem Stress. Eben Alexander widerspricht: „Das materialistische Bild von Körper und Gehirn als Produzenten statt als Vehikel des menschlichen Bewusstseins versagt.“

Weil er 25 Jahre lang als Neurochirurg gearbeitet hatte und unter anderem an der Harvard Medical School in Boston lehrte, sorgte sein Erlebnis für einen medialen Hype: Im November 2008 hatte ihn eine schwere und seltene bakterielle Hirnhautentzündung sieben Tage lang in ein tiefes Koma versetzt. Die Ärzte hatten ihn angeblich schon aufgegeben, aber dann erwachte er und genas. Darüber berichtet er in seinem Buch „Proof of Heaven“ – Untertitel: „A Neurosurgeon’s Journey into the Afterlife“. Es erschien am 23. Oktober 2012 und schnellte beim Versandbuchhändler Amazon sofort auf Verkaufsrang 1, wo es erst eine Woche später von einem Kinderbuch verdrängt wurde.

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Das Magazin Newsweek druckte einen Ausschnitt vorab und titelte mit Großbuchstaben auf dem Cover: „Heaven is real“. Hirnforscher und Philosophen reagierten wenig begeistert. Der Titel zeige die „Verzweiflung der Journalisten, einen intellektuellen Bankrott und die Zähigkeit der Religion“, wetterte Harris. „Als archäologisches Artefakt würde die Newsweek-Ausgabe uns in den Augen künftiger Generationen sicherlich beschämen.“ Dabei bezweifelt Harris gar nicht Alexanders Erlebnis, aber sehr wohl dessen Interpretation und Schlussfolgerungen. Und er betont, dass das Gehirn des Chirurgen gar nicht „abgeschaltet“ oder „total offline“ gewesen war, wie er behauptete, denn sonst hätte er keine Erlebnisse oder Erinnerungen berichten können.

ausser KONTROLLe geraten

„Koma ist keine Inaktivierung des Großhirns“, sagt auch der UCLA-Neurowissenschaftler Mark Cohen. Und Dean Mobbs, Neuropsychologe an der Columbia University in New York, meint: „ Da war keine paranormale Komponente beteiligt. Vielmehr handelte es sich um die Manifestation normaler Hirnfunktionen, die außer Kontrolle geraten waren.“

In einer traumatischen Extremsituation versucht der Verstand, Sinn in die verwirrenden Impulse zu bringen. Endogene Halluzinogene wie Opiate und vielleicht Dimethyltryptamin werden ausgeschüttet und versetzen das Gehirn in Trance. Michael Raduga vom „Out-of-body-experience Research Center“ an der UCLA bietet sogar Kurse an, wie sich außerkörperliche Erfahrungen gleichsam erträumen lassen.

Tatsächlich sind solche Erlebnisse nicht nur häufig, sie lassen sich auch künstlich erzeugen. Das heißt nicht, dass der Geist sich wirklich vom Körper löst und davonschwebt. Aber die Menschen erleben beziehungsweise deuten ihre Bewusstseinsvorgänge so, als würde das geschehen.

Schon vor ein paar Jahren haben Neurologen um Olaf Blanke von der Universitätsklinik Genf entdeckt, dass elektrische Reizungen einer bestimmten Großhirn-Region extrakorporale Halluzinationen triggern. Die Forscher regten den Gyrus angularis im Scheitellappen an. Diese Hirnwindung führt visuelle Informationen vom eigenen Körper und dessen Repräsentation im Raum mit Informationen aus dem Gleichgewichtsorgan zusammen und verknüpft sie mit sensorischen Rückmeldungen der Gliedmaßen.

Die elektrische Stimulation bringt die neuronale Integration durcheinander. Stromstöße von 2 bis 3 Milliampere induzieren bereits Empfindungen des Gleichgewichtssinns, zum Beispiel das Gefühl, herunterzufallen. Bei 3,5 Milliampere glaubt die Versuchsperson, sich von oben im Bett liegen zu sehen. Bei 5 Milliampere scheinen sich ihre Beine oder Arme auf das Gesicht zuzubewegen. Ein ähnlicher Effekt lässt sich sogar ganz ohne Stromstöße hervorrufen. Henrik Ehrsson vom University College of London – jetzt am Karolinska-Institut in Stockholm – hat irreführende Wahrnehmungen außerkörperlicher Erlebnisse mit der modernen Technik der virtuellen Realität erzeugt. Seine Versuchspersonen bekamen Videobrillen aufgesetzt und betrachteten sich damit aus der Perspektive von hinter ihnen filmenden Kameras.

Echte und vorgetäuschte Berührungen führten dazu, dass sie sich quasi außerhalb ihres Körpers lokalisierten. Eine solche Illusion basiert darauf, dass verschiedene Sinneseindrücke und kognitive Annahmen miteinander in Widerspruch geraten und die Körperrepräsentation im Gehirn durcheinanderbringen.

Auch das Gefühl, eine geisterhafte Person neben sich zu haben, lässt sich künstlich auslösen. Der kanadische Neurowissenschaftler Michael Persinger von der Laurentian University in Sudbury, Ontario, hat im Verlauf von zwei Jahrzehnten über 1000 Versuchspersonen mit speziell modulierten schwachen Magnetfeldern stimuliert. Viele berichteten daraufhin von seltsamen Empfindungen, die sie häufig als übernatürlich interpretierten: Ihr Körper schien zu vibrieren oder zu schweben, ihnen kamen lebhafte Erinnerungen, sie glaubten innere Stimmen oder Instruktionen zu vernehmen oder die Gegenwart von etwas oder jemandem zu spüren – oft als „fremdes Ego“, Gott oder Schutzengel gedeutet (bild der wissenschaft 7/2005, „Gott im Gehirn“).

Den Eindruck von der Anwesenheit einer unsichtbaren geisterhaften Gestalt erzeugten auf andere Weise auch Olaf Blanke, Shahar Arzy und ihre Kollegen an der Universitätsklinik Genf. Die Neurologen stimulierten mit Stromstößen die temporo-parietale Übergangsregion. Diese über den Ohren gelegene Großhirnregion ist an der der Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich beteiligt.

WAHNSINNIGE Selbsttäuschung

Zu einer anderen Selbsttäuschung des Gehirns kann es kommen, wenn dieses seine Gedanken nicht vollständig als seine eigenen Gedanken repräsentiert – ähnlich wie bei Störungen, bei denen beispielsweise das eigene Bein als fremd erfahren wird. Die Gedanken erscheinen als Stimmen von jemand anderem und werden zum Beispiel als telepathische Verbindung erlebt oder als eingeflößt von Geheimdiensten, außerirdischen Intelligenzen, Dämonen, Geistern oder Gott. Das ist eine mögliche Erklärung der Schizophrenie.

Das Wissen um die Erkrankung hilft nicht, die Halluzinationen abzustreifen. Der Bonner Neurologe Detlef B. Linke berichtete von einem Medizinstudenten, der davon überzeugt war, Gott getroffen zu haben, und der zugleich akzeptierte, dass er unter einer schweren Psychose litt, wie in den Lehrbüchern beschrieben.

Überaktiv oder geschrumpft?

Was geschieht im Gehirn von Menschen, die hyperreligiös sind – sich also manisch mit ihrem Glauben beschäftigen und ihm alles unterordnen? Die Ursache kann eine Überaktivierung des Schläfenlappens sein. Aber eine anatomische Hirnschrumpfung hat einen ähnlichen Effekt – zu diesem überraschenden Ergebnis gelangte ein Team um Dennis Chan vom Institute of Neurology in London. Patienten mit einer Atrophie (Rückbildung) des rechten Schläfenlappens hatten Probleme bei der Orientierung und beim Wiedererkennen von Gesichtern, außerdem visuelle Halluzinationen. Sie zeigten enthemmtes Verhalten, Obsessionen – etwa das zwanghafte Bemalen von Lichtschaltern – und extreme religiöse Besessenheit.

Wenn dagegen der linke Schläfenlappen verkümmert, sind oft Sprachstörungen die Folge, weil die Sprachfähigkeit bei den meisten Menschen dort verortet ist. Allerdings beweist eine Korrelation noch keine Kausalität. „Obwohl es wahrscheinlich ist, dass eine Hirnatrophie religiös machen kann, lässt sich nicht ausschließen, dass es sich umgekehrt verhält“, kommentierte der britische Biologe Tom Rees sarkastisch.

Dass bestimmte Hirnareale im Schläfen- und Scheitellappen mit einem gesteigerten Glauben einhergehen können, beobachteten auch andere Wissenschaftler. Eine Studie der Psychologen Brick Johnstone und Bret Glass von der University of Missouri in Columbia belegt, dass die Fähigkeit zur „Selbsttranszendenz“ in Menschen zunahm, denen man einen Tumor im „Brodmann-Areal 40″ des rechten oder linken Scheitellappens entfernt hatte. Das war schon kurz nach dem chirurgischen Eingriff der Fall und noch Monate später. Auch der religiöse Glaube nahm zu, wenn dort ein Tumor wuchs. Und zwar bereits vor der Operation, wie ein italienisches Neurologenteam um Cosimo Urgesi von der Universität Udine feststellte.

Dass eine Inaktivierung im Scheitellappen Spiritualität vermittelt, hatten Hirnscans schon in den 1990er-Jahren gezeigt. So maß Andrew Newberg von der University of Pennsylvania in Philadelphia mit dem recht groben SPECT-Verfahren (Single Photon Emission Computed Tomography) die Hirndurchblutung bei meditierenden tibetanischen Buddhisten und franziskanischen Nonnen. Der Blutfluss ist ein indirektes Maß für die Aktivität der Großhirnrinde. Auffällig war eine Deaktivierung des Orientierungs-Assoziations-Areals (OAA) im hinteren oberen Scheitellappen. Es empfängt Informationen von verschiedenen Sinnesorganen und repräsentiert normalerweise die Grenze zwischen dem eigenen Körper und der Umwelt: in der linken Hirnhälfte überwiegend die physische Körpergrenze und in der rechten mehr den Kontext, in dem der Körper agiert, das heißt seine Position in Zeit und Raum. OAA-Schädigungen bewirken schwere Orientierungsverluste – die Patienten können beispielsweise nicht einmal mehr ihr Bett finden oder sich hineinlegen.

Mit der vorübergehenden OAA-Inaktivierung bei einer Meditation scheinen eine Auflösung der Ich-Welt-Grenze und ein Verschwinden des Raum-Zeit-Bezugs einherzugehen. Daher rührt wohl das Gefühl der Ewigkeit, Endlosigkeit und des Aufgehens des Selbst in etwas Größerem, Umfassenderem. Von einem solchen „Einheitsgefühl“ mit der Welt haben Mystiker aller Kulturen berichtet („unio mystica“, Nirwana, Tao, Brahman-Atman). Je nach Interpretation wird der Zustand als Eingehen ins Nichts oder ins All beschrieben, als eine Erfahrung der Leere oder als Verschmelzung mit dem Universum oder einem kosmischen Bewusstsein.

MÖNCHE IM HIRNSCANNER

Wie intensive Meditation die Hirnaktivitäten beeinflusst, hat auch ein Team um Richard Davidson und Antoine Lutz von der University of Wisconsin in Madison erforscht, unterstützt von buddhistischen Mönchen. In tiefer Meditation zeigten ihre Gehirne im Elektroenzephalogramm eine erhöhte Gamma-Aktivität (Frequenzen zwischen 25 und 42 Hertz), wie es für konzentriertes Nachdenken typisch ist. Die Wissenschaftler spekulieren, ob dies ein Anzeichen für eine weiträumige Synchronisation der Gehirnaktivitäten ist. Mit der funktionellen Magnetresonanztomografie registrierten sie außerdem veränderte Aktivitäten in vielen Cortex-Regionen, wie sie sich bei starker Konzentration zeigen. Die Meditation der Buddhisten war also keineswegs ein hirnschonendes Dösen.

Und die Hirnscans sprechen dafür, dass häufiges Meditieren das Mitgefühl intensivieren kann. Als die Mönche mit menschlichen Schmerzlauten konfrontiert wurden, war die Übergangsregion zwischen Schläfen- und Scheitellappen im Vergleich zu neutralen oder positiv klingenden Kontrolltönen bei ihnen aktiver als bei Novizen. Dieser Großhirnbereich arbeitet beispielsweise dann verstärkt, wenn man sich in andere einfühlt. Die ins Cortexinnere gefaltete Inselrinde war ebenfalls aktiv. Sie ist an der Entstehung und Verarbeitung von Emotionen beteiligt – auch dann, wenn man Schmerzen anderer wahrnimmt oder sich vorstellt.

Freilich sind Glaube, Religiosität und Religion ein vielschichtiges Phänomen. Es lässt sich nicht auf außergewöhnliche Hirnzustände reduzieren, etwa auf Nahtoderfahrungen oder spirituelle Einheitsgefühle. Solche extremen Prozesse mögen für Religionsstifter oder Propheten eine Rolle gespielt haben und „Offenbarungen“ oder „Erleuchtungen“ neurologisch zugrunde liegen. Historische Hirnforscher haben dazu ein paar kühne Hypothesen entwickelt und neben Drogenerfahrungen vor allem Visionen wie bei bestimmten Migräneformen, Halluzinationen wie bei der Schizophrenie und Hirnstörungen wie die Schläfenlappen-Epilepsie als Grundlage religiös gedeuteter Erfahrungen postuliert.

Die meisten „normalen“ Gläubigen kennen aber keine solchen Erlebnisse. Was in ihren Köpfen vorgeht, wenn sie beten oder religiöse Rituale vollziehen, war bis vor Kurzem noch weitgehend unerforschtes Terrain. Doch mithilfe der funktionellen und strukturellen Kernspintomografie (Magnet Resonance Imaging, abgekürzt fMRI und sMRI) sind Neurowissenschaftler nun ausgezogen, um auch diese innere Welt zu vermessen. Allerdings muss man die Messungen dieser Techniken vorsichtig interpretieren (bild der wissenschaft 5/2012, „Hirnscans unter Beschuss“).

Nicht sonderlich überraschend ist die Erkenntnis, dass es keinen speziellen „God Spot“ im Gehirn gibt – sozusagen einen einzelnen Sende- und Empfangsort für eine Art Hotline zum Himmel. Auch aus theologischer Sicht wäre ein solcher Interaktionsknoten mit dem Übernatürlichen im Hirn reichlich naiv. Vielmehr sind es ganz gewöhnliche Hirnwindungen, die tätig werden, wenn Menschen ins Transzendente denken. Dabei stehen vor allem jene Großhirnregionen in Wechselwirkung, die auch in sozialen Situationen aktiv sind – und die Emotionen vermitteln, während die fürs logische Denken zuständigen Stirnhirnareale bei religiösen Urteilen wenig beschäftigt sind (bild der wissenschaft 1/2010, „Warum Menschen glauben“).

Ein dänisches Forscherteam um Uffe Schjoedt von der Universität Aarhus hat diese Einsichten noch vertieft. Es schaute Mitgliedern der strengreligiö-sen Glaubensgemeinschaft „Innere Mission“ – einer Splittergruppe der Lutheraner – gleichsam in den Kopf, während diese im fMRI-Scanner beteten, das Vaterunser rezitierten, einen Kinderreim sprachen oder Wünsche an den Weihnachtsmann richteten. Alle Gläubigen waren fest davon überzeugt, dass Gott – nicht aber der Weihnachtsmann – als eine Person mit eigenen Absichten existiert, die Gebete erhört und auch darauf reagiert.

Vaterunser und Kinderreime

Vaterunser und Kinderreime wurden neuronal ganz ähnlich verarbeitet: Aktiv waren etwa das untere seitliche Stirnhirn, die Scheitellappen und das Kleinhirn. Weil die Gläubigen das Vaterunser mehrmals pro Woche beteten, war das Gebet für sie stark ritualisiert und relativ abstrakt, wie sie auch selbst sagten. Die persönlichen Gebete jedoch, die die Gläubigen mehrfach täglich sprachen, waren individuell. Und dabei waren dieselben Hirnareale aktiv wie bei gewöhnlichen Gesprächen:

· der vordere Schläfenlappen, Grundlage des täglich aktualisierten autobiografischen und sozialen Gedächtnisses,

· der vordere mittlere Präfrontalcortex, der wohl die Realität des Gegenübers repräsentiert, und

· die Übergangsregion zwischen Schläfen- und Scheitellappen, die wahrscheinlich die Gegenseitigkeit der Kommunikation widergibt.

Bei Wünschen an den Weihnachtsmann waren diese Hirnareale dagegen nicht aktiv – weil die Versuchspersonen nicht an seine Existenz glaubten und ihn daher auch nicht als persönliches Gegenüber empfanden.

„Ein persönliches Gebet zu Gott manifestiert sich im Gehirn als eine intersubjektive Erfahrung vergleichbar mit einer ‚ normalen‘ zwischenmenschlichen Interaktion“, lautet das Fazit der Forscher. Die dänischen Strenggläubigen vollziehen also eine Art „ innere Mission“ und denken Gott dabei als reales Gegenüber, quasi als eine Person – und nicht als abstraktes Wesen mit Eigenschaften wie Allgegenwart, Allwissenheit, Allmacht und Trinität. Gott ähnelt bei ihnen einem Freund, mit dem man sich austauscht, und nicht einer körperlosen Urkraft – was auch theologisch relevant sein sollte, wie Uffe Schjoedt und seine Kollegen meinen.

GOTT ALS ALTER EGO

Freilich ist Gott nicht jedem so präsent wie religiösen Fundamentalisten. Doch bei allen Gläubigen sind die neuronalen Schaltkreise für das Sozialleben von Bedeutung. Dabei gibt es sogar eine interessante egozentrische Pointe. Das entdeckten Nicholas Epley von der University of Chicago und seine Kollegen. Sie schauten mit fMRI nach, was geschieht, wenn Menschen beurteilen, was der mutmaßliche Wille Gottes ist. Dabei ging es beispielsweise um die Themen Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehe. Die Wissenschaftler verglichen, was im Kopf beim eigenen Urteil geschieht und bei der Vorstellung über die mutmaßliche Meinung anderer Menschen.

Ergebnis: Beim Nachdenken über die Meinungen anderer ist vor allem eine Region im unteren Stirnhirn aktiv. Bei der Reflexion der eigenen Gedanken sind es stattdessen das mittlere vordere Stirnhirn, die vorderen Schläfenlappen, die Übergangsregion von Schläfen- und Scheitellappen sowie der Precuneus, der unterhalb des Haarwirbels im inneren Scheitellappen liegt. Diese Regionen werden auch tätig, wenn Menschen beurteilen, was Gottes Gedanken sein könnten. „Gott“ wird hier also nicht wie eine andere Person im Gehirn „verarbeitet“, sondern ist gleichsam die Fortsetzung oder Projektion der eigenen Einstellungen.

„Die Intuitionen von Gottes Willen scheinen das Echo der eigenen Ansichten zu sein“, schreiben Epley und sein Team. „ Menschen benutzen egozentrische Informationen, um auf Gottes Willen zu schließen, weil sie annehmen, dass göttliche Meinungen wahr sind, und weil jeder Mensch von sich selbst denkt, dass seine Meinung richtig ist.“ Zwar besagt die jüdisch-christliche Tradition explizit, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf. Aber Gläubige und Nichtgläubige haben immer wieder betont, dass der Mensch auch Gott nach seinem Bilde schuf. Schon im 6. Jahrhundert v.Chr. wies der griechische Dichter und Philosoph Xenophanes auf den Anthropomorphismus religiöser Vorstellungen hin. Das trifft vollkommen zu, folgert Epley aus den Ergebnissen seiner neurowissenschaftlichen Experimente.

DER GLAUBE PRÄGT DAS GEHIRN

Hirnvorgänge codieren aber nicht nur den Glauben, sondern die Art des Glaubens prägt auch das Gehirn. Zu dieser Erkenntnis, die in dem Ausmaß eigentlich nicht zu erwarten war, gelangte ein Neurologen-Team um Jordan Grafman vom National Institute of Neurological Disorders and Stroke in Bethesda, Maryland. Die Forscher hatten mit sMRI die Dicke der Grauen Substanz in der Großhirnrinde bei unterschiedlichen Menschen vermessen. Die Annahme war: Ausgedehntere Regionen haben mehr Nervenzellen oder Zellverbindungen, weil sie stärker in Gebrauch sind.

Tatsächlich zeigte sich ein Zusammenhang zwischen Art und Ausmaß der Gläubigkeit einerseits und dem Volumen spezifischer Hirnareale: Menschen, die von einer engen Beziehung zu Gott sprachen, häufig beteten und Gottesdienste besuchten, hatten im Schläfenlappen einen vergrößerten temporalen Pol und mittleren temporalen Gyrus (Brodmann-Areal 21). Diese Bereiche repräsentieren zwischenmenschliche Beziehungen, einschließlich der Mutter-Kind-Bindung, aber auch den Bezug auf sich selbst. Ein persönlicher Gottesbezug scheint neuronal somit als „menschlicher Bezug“ verarbeitet zu werden.

Bemerkenswerterweise fanden die Forscher sogar eine Korrelation zwischen der Menge der Grauen Substanz im Schläfenlappen und bestimmten Verhaltensmerkmalen: Menschen mit einem sehr großen Volumen neigen zu Stereotypien bis hin zu Zwangserkrankungen. Ein großes Volumen geht oft mit einer starken Religiosität einher, besonders auch in rituellen Formen – das, was Michael Persinger und andere als hyperreligiöse „ Schläfenlappen-Persönlichkeit“ bezeichnen. Nichtreligiöse Menschen haben tendenziell ein mittleres Volumen. Ist es gering, leiden die Betroffenen häufig unter Schizophrenie – die sich zum Teil wiederum in pathologischen Gottesbezügen äußert.

Menschen, die sich vor Gottes Zorn fürchten, zeigen eine geringere Ausprägung des Precuneus und orbitofrontalen Cortex (BA 11) im linken Großhirn. Diese Areale, die laut fMRI-Messungen bei devot Gläubigen aktiver sind, haben mit Empathie und dem situativen Gedächtnis zu tun. Möglicherweise „schrumpften“ sie, weil die Gläubigen Angst vor dem imaginierten unberechenbaren Verhalten Gottes haben, während es sich bei der Gottesliebe umgekehrt verhält, vermuten die Forscher.

Herrscht hingegen ein nichtreligiöser Pragmatismus vor, sind im rechten Großhirn der Precuneus und der calcarine Gyrus (BA 17) größer. Diese Areale werden mit Skepsis und der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel assoziiert. Und tatsächlich betrachteten die Testpersonen Menschen ambivalenter und moralische Werte eher als relativ.

IM HIRN SPIRITUELLER FRAUEN

Allerdings ist es noch zu früh zu beurteilen, wie fundiert solche Messungen und Aussagen wirklich sind. Immerhin hat inzwischen auch ein Team um Peter Van Schuerbeek von der Universität Brüssel das Volumen der Grauen Substanz in ausgewählten Hirnregionen bestimmt – und zwar bei jungen Frauen, die zudem einen Persönlichkeitstest absolvierten. Für die meisten Charaktermerkmale – etwa die Neigung, Schaden zu vermeiden, Neues zu suchen oder Belohnungen anzustreben – fanden die Forscher keine Auffälligkeiten. Frauen, die eine hohe Selbsttranszendenz besaßen, also überdurchschnittlich spirituell waren, hatten allerdings oft mehr Graue Substanz in zwei Windungen im rechtsseitigen Schläfen- und Scheitellappen: im mittleren temporalen und im unteren parietalen Gyrus. Reduziert war die Graue Substanz dagegen im linken unteren temporalen Gyrus sowie in der Tiefe des Scheitellappens und im Stirnhirn im oberen frontalen Gyrus. Wie das zu den anderen Hirnstudien über Spiritualität passt, ist bislang unklar.

Auch viele übergreifende Fragen sind noch offen: etwa wie Gläubigkeit vom Gehirn erzeugt wird, ob Religiosität ein biologischer Irrläufer ist oder aber sich in der Evolution als vorteilhaft erwiesen hat (bild der wissenschaft 2/2007, „ Lohnender Luxus“ sowie 1/2010, „Der Nutzen des Himmels“). Unstrittig ist dagegen, dass bestimmte Hirnvorgänge und deren Deutung im soziokulturellen Horizont umwälzende lebensprägende Veränderungen hervorrufen können.

Die persönliche Transformation des Neurochirurgen Eben Alexander, der freilich schon vor seiner Erkrankung dem christlichen Glauben anhing, ist ein drastisches Beispiel. Es illustriert auch, wie verzweifelt das hochkomplexe menschliche Gehirn einen Sinn in und außerhalb der Welt zu finden trachtet – oder ihn einfach erfindet. ■

von Rüdiger Vaas

Gut zu wissen: Religiosität und Gläubigkeit

Religiosität ist eine Fähigkeit oder Eigenschaft, nämlich das Persönlichkeitsmerkmal, eine Religion zu haben und sich so gläubig auf Transzendentes zu beziehen – im Denken, Fühlen und Handeln. Gläubigkeit charakterisiert die individuelle Ausprägung der Religiosität. Der Begriff Religion schillert in seiner Bedeutungsvielfalt – eine allgemein akzeptierte Definition gibt es nicht. Doch die folgenden sieben Merkmale sind für jede Religion charakteristisch, wobei nur das erste Merkmal notwendig ist (selbst beim Buddhismus, in dem streng genommen kein Gott existiert):

· Transzendenz: Der Glaube an eine außer- und übernatürliche Macht (oder mehrere) – Ahnen, Seelen, Geister, Götter, Gott.

· Ultimative Bezogenheit: Das Gefühl der Verbundenheit, Abhängigkeit, Verpflichtung und der Glaube an eine Sinngebung und Bestimmung – sowohl für das Individuum als auch für die Gemeinschaft.

· Mystik: Die Erfahrung des „Heiligen“ bis zum Erlebnis von Einheitsgefühlen mit dieser Macht oder dem ganzen All.

· Mythos: Die Welterklärung und -bewertung bis hin zu einem Heils- und Erlösungsversprechen.

· Moral: Transzendent begründete Wertordnung aus Ge- und Verboten, die das individuelle und soziale Verhalten leiten.

· Ritus: Symbolisch aufgeladene Handlungen oder Gegenstände beispielsweise zur Abweisung des Bösen, zu Heilungsversuchen oder für bestimmte Lebensphasen.

· Gemeinschaft: Die soziale Verbundenheit im geteilten und tradierten Glauben – in Erleben, Ausdruck, Erziehung, Mission, Interpretation und Bekräftigung bis hin zur Institutionalisierung.

Spiritualität ist eine Unterform der Religiosität und durch Selbstvergessenheit und umfassende Einheitsgefühle charakterisiert – also mit ultimativer Bezogenheit und Mystik. Sie kann auch „esoterisch“ oder „atheistisch“ sein.

Kompakt

· Gläubigkeit basiert auf Hirnarealen und -funktionen, die für das soziale Leben wichtig sind. Die Gedanken an Gott werden im Gehirn nicht rational verarbeitet, sondern wie Gedanken an eine andere Person oder wie eigene Meinungen.

· Spiritualität und außergewöhnliche Erfahrungen, die religiös gedeutet werden, beruhen vor allem auf Prozessen im Schläfen- und Scheitellappen.

Mehr zum Thema

LESEN

Einführung in die naturwissenschaftliche Erforschung von Religiosität und Spiritualität: Rüdiger Vaas, Michael Blume GOTT, GENE UND GEHIRN Hirzel, Stuttgart 2012, 3. Aufl., € 24,–

Moderne Religionsphilosophie: Kurt Wuchterl KONTINGENZ ODER DAS ANDERE DER VERNUNFT Steiner, Stuttgart 2011, € 24,–

INTERNET

Aktuelle Forschungsübersichten: epiphenom.fieldofscience.com www.evomagazin.de www.samharris.org

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