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Paradies unter Wasser

Geschichte|Archäologie

Paradies unter Wasser
Ein idyllischer Zufluchtsort, ein sorgenfreies Leben. Und eine große Flut, die nur wenige entkommen ließ. Die uralten Mythen haben fassbare Wurzeln, vermutet ein Archäologe – im heutigen Persischen Golf.

EINE KOMPLETT abweichende Ansicht, wo der Ort der Glückseligkeit gelegen hat, vertreten nur die Mormonen. 1831, nach einem Besuch im US-Bundesstaat Missouri, war Joseph Smith junior – Gründer der „Kirche der Heiligen der letzten Tage“ – ganz sicher: Nirgendwo sonst als im Jackson County, östlich von Kansas City, war einst der biblische Garten Eden.

Der Rest der Welt sieht das ganz anders. Seit Jahrzehnten haben Altphilologen und Archäologen sich mit der Frage befasst, welche reale irdische Region einst als Vorlage für den mythischen Ort gedient haben könnte. Einhellig machen sie den fruchtbaren Platz, an dem „alle Arten von Bäumen“ mit wohlschmeckenden Früchten wuchsen (Genesis Kapitel 2, 8–9), geografisch im Nahen Osten fest. Schon der Name gibt Hinweise: „Gan Eden“, wie der wunderbare Garten in der hebräischen Bibelversion heißt, hat klare Anklänge an das viel ältere sumerische Wort „Edin“ für „ Steppe“ und den historischen, wegen seiner Fruchtbarkeit umkämpften Landstrich „Gu-Edena“ („Rand der Steppe“, Grünland) im Süd-Irak.

Doch mit diesem Namensvergleich ließen die Forscher es nicht bewenden und nahmen den gesamten Nahen Osten genauer unter die Lupe. Der britische Ägyptologe David Rohl siedelte den einstigen Garten Eden im heutigen Iran an, im fruchtbaren Tal von Täbris. Der deutsche Altorientalist Manfried Dietrich sah im Tempelgarten der sumerischen Stadt Eridu, im Süd-Irak, das historische Vorbild. Der amerikanisch-lettische Archäologe Juris Zarins schlug nach der Auswertung von Satellitenbildern das Nordufer des Persischen Golfs als passendsten Ort vor. Und der 1990 verstorbene Sumerologe Samuel Noah Kramer vermutete im Inselstaat Bahrain, 40 Kilometer vor der Ostküste Saudi-Arabiens im Golf gelegen, das Urbild des Paradieses.

EINE RETTENDE OASE

Der Archäologe Jeffrey Rose, in Maskat/Oman stationiert und bis vor Kurzem in Diensten der britischen University of Birmingham, geht einen Schritt weiter. Er sieht das archaische Vorbild für den Garten Eden nicht etwa nördlich des Persischen Golfs, auch nicht an der Golfküste oder auf einer Golfinsel. Er vermutet den paradiesischen Platz dort, wo heute Supertanker ihre Bahn ziehen und täglich 15 Millionen Barrel Rohöl von den Ölfeldern in alle Welt bringen: im Zentrum des Golfs – unter Wasser. „Da war eine Oase“, erklärt Rose, „ein Zufluchtsort während der Kaltphasen der letzten Eiszeit, wenn der Großteil der Region wegen des hyperariden Klimas unbewohnbar war.“

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Wäre der 38-jährige Amerikaner einer der vielen Fantasten, Esoteriker und Schwadroneure, die sich im Dunstkreis alter Mythen tummeln, gäbe es keinen Grund, seiner „Golf-Oasen-Hypothese“ auch nur eine Zeile in bild der wissenschaft einzuräumen. Doch Rose hat sich mit spektakulären Grabungen an seinem beruflichen Standort Oman einen Namen als seriöser Archäologe gemacht. Er hat erheblichen Anteil an der aktuellen Erkenntnis: Schon vor mehr als 100 000 Jahren lebten Menschen – anatomisch moderne Auswanderer aus Ostafrika – auf der Arabischen Halbinsel, die damals attraktive Lebensbedingungen mit Flüssen, Seen und wildreichem Grasland bot (siehe „Die arabische Menschenpumpe“ ab Seite 20).

Solche klimatisch angenehmen Phasen wurden allerdings immer wieder von ungemütlichen abgelöst: An den Kälte-Peaks der Eiszeit lagerten sich große Mengen atmosphärischen Wasserdampfs in den Eispanzern der nördlichen Halbkugel ab. Die Menschen im subtropischen Nahen Osten bekamen dann zwar weder Eis noch Schnee zu sehen. Aber die Niederschläge gingen zurück. Flussbetten und Wasserlöcher fielen trocken, und das Grasland verdorrte zu staubiger Steppe. Die Auswanderer aus Ostafrika saßen auf der Arabischen Halbinsel plötzlich in einer lebensfeindlichen Falle.

Die Wildtiere und die zweibeinigen Jäger, die von ihnen lebten, zogen sich in extrem trockenen („hyperariden“) Phasen in Refugien zurück. Die letzten Zufluchtsorte lagen an den Küsten. Die wachsenden Gletscher in Nordamerika und im nördlichen Eurasien banden zeitweise so viel Wasser, dass der Meeresspiegel weltweit bis zu 120 Meter unter das heutige Niveau sank und einen Teil des Schelfsockels entblößte. „Auf dem Schelf bildeten sich dann Küstenoasen“, sagt Rose. „Sie wurden von Quellen bewässert, die am Fuß der Küstengebirge zutage traten, oder sie waren Abflussgebiete für die restlichen Niederschläge, die an den Gebirgshängen abregneten.“

Drei Refugien dürften in harten Zeiten die besten Überlebenschancen geboten haben (siehe Karte auf S. 22):

· das Becken des Roten Meeres mitsamt dem wasserreichen Asir-Hochland im heutigen Jemen,

· der Küstenschelf Südost-Arabiens, im heutigen Oman,

· und, wie Jeffrey Rose argumentiert, das Becken des Persischen Golfs. Aus ihm hatte sich vor rund 75 000 Jahren – zum Auftakt einer langen Trockenzeit – der Indische Ozean vollständig zurückgezogen. Und bis etwa 7000 v.Chr. sollte das auch so bleiben.

Mit durchschnittlich nur 40 Meter Wassertiefe, an den tiefsten Stellen maximal 100, ist der Persische Golf eines der flachsten Randmeere der Welt. Als zu Beginn der Kaltphase, die bei den Forschern MIS 4 heißt („Marines Isotopenstadium 4″, vor 74 000 bis 57 000 Jahren), der Spiegel des Indischen Ozeans um 40 Meter gefallen war, wurde der frühere Meeresgrund zu Festland. „Was nun entstand, war das, was ich ,Golf-Oase‘ nenne“, sagt Rose.

An der Sohle des trockengefallenen Meeresarms floss der „ Urschatt“, wie die Geologen den Fluss getauft haben – abgeleitet vom Schatt al-Arab, dem heutigen Zusammenfluss von Euphrat und Tigris. Noch heute ist der Urschatt als Canyon am Grund des Persischen Golfs nachweisbar. Gespeist wurde der Fluss von den Namensgebern des Zweistromlandes – Euphrat und Tigris –, dem von Westen einmündenden Wadi Batin (heute das wasserlose Grenztal zwischen Kuweit und Irak) und dem Karun, der im iranischen Zagros-Gebirge entspringt. Weitere Zuflüsse strömten von beiden Flanken der großen Senke zwischen Iran und Arabien zur Ur-Schatt-Rinne. Wie die Geologen heute vermuten, ergoss sich der Urschatt jenseits der Straße von Hormuz nicht in den Indischen Ozean: Er endete zuvor in einem abflusslosen See.

SÜSSWASSER IM ÜBERFLUSS

Drei große Becken (Western, Central und Eastern Basin) entlang des Urschatt sowie ein viertes in der heutigen Straße von Hormuz füllten sich mit Flusswasser sowie aus unterirdischen Grundwasserleitern. „Bis heute ergießen sich diese Süßwasserquellen untermeerisch in den Golf“, weiß Rose. So sei einstmals eine Landschaft inklusive Tier- und Pflanzenwelt entstanden, die den darbenden Klimaflüchtlingen aus dem höher gelegenen ausgedörrten Hinterland paradiesisch vorgekommen sein muss.

Die Seen im Western und Central Basin waren bis zu drei Mal so lang wie der Bodensee. „Das war ein Mosaik aus Quellen, Flüssen, Seen, Mangrovensümpfen und Lagunen – wahrscheinlich eines der ergiebigsten und stabilsten Süßwasserreservoire in ganz Südwestasien“, unterstreicht Rose. Ein weiterer Pluspunkt dieser Region: „Es gibt hier umfangreiche Feuersteinvorkommen. Bahrain, Katar und die Inseln vor Abu Dhabi sind übersät von den Knollen.“ Angesichts so vieler Vorteile hätten sich in der Golf-Oase zweifellos ständig Menschen aufgehalten.

Gab es dieses Paradies aus großen Süßwasserseen wirklich – oder geht dem Archäologen vor lauter Begeisterung für seine Hypothese der Gaul durch? Der Geologe Kurt Lambeck von der Research School of Earth Sciences im australischen Canberra ist ein intimer Kenner der Paläogeografie des Persischen Golfs. Er hat 1995 aufwendig die alten Küstenlinien und die Ränder der Seebecken rekonstruiert. Sein salomonisches Urteil lautet: „Das Potenzial für die Bildung von Seen hat an mehreren Stellen bestanden. Ob die Becken sich bis zum Maximum ihrer Kapazität mit Süßwasser füllten, hing von den klimatischen Bedingungen ab, die in der Golfregion und im Einzugsgebiet der Flüsse herrschten.“

Hans-Peter Uerpmann, Archäologe an der Universität Tübingen, spielt seit seinen aufsehenerregenden Entdeckungen am Dschebel Faya in den Vereinigten Arabischen Emiraten (siehe „Die arabische Menschenpumpe“ ab S. 20) eine Hauptrolle bei der Aufklärung der Vorgeschichte Südost-Arabiens. Er kennt den Kollegen Rose und seine Golf-Oasen-Hypothese gut: „Wir diskutieren jedes Mal darüber, wenn wir uns treffen. Ich streite mich gern mit Jeff – freundschaftlich.“

WAR DER ENDSEE VERSALZEN?

Der Tübinger gibt unter anderem zu bedenken: „Bei Flüssen, die wie der Urschatt nicht ins Meer fließen, sondern vorher verlanden, entwickelt sich der Endsee häufig zum Salzsee. Das kommt mir nicht sehr paradiesisch vor.“ Rose verweist auf die schon damals kräftig sprudelnden Quellen an den Hängen der Senke und kontert: „Ob das ein Süßwassersee oder tatsächlich ein Salzsee war, ist vorläufig unklar. Das müssten Sedimentproben aus dem früheren Seegrund zeigen. Darin würde man Süßwasser- von Salzwassermuscheln unterscheiden können.“

Im Kollegenkreis hat der amerikanische Wissenschaftler bislang zu gleichen Teilen sowohl ungläubiges Kopfschütteln als auch ein anerkennendes „Weiter so“ erlebt. Der Tenor: Hübsche Idee – aber beweise uns, dass in der Golf-Oase tatsächlich über Zehntausende von Jahren Menschen gelebt haben. Ein schwieriges Unterfangen, weiß Rose: „Ein unwiderlegbarer Beweis wären Steinwerkzeuge oder Fossilien von anatomisch modernen Menschen, die man aus bis zu 140 Meter Tiefe mitten im Golf bergen müsste.“ An Stellen also, nach denen man inmitten einer der meistbefahrenen Schifffahrtsrouten der Welt zu suchen hätte, unter 40 bis 100 Meter Wassersäule plus weiteren 40 Meter Sediment, die sich über den vermuteten altsteinzeitlichen Fundhorizonten türmen.

„Wundervoll wäre es, wenn man bei derartigen Grabungen auch von Menschen gemachte Strukturen – etwa Hüttengrundrisse – aus der Jungsteinzeit finden würde“, sinniert der Archäologe. Denn seine Hypothese ist mit der Idee einer grünenden Zuflucht für Jäger und Sammler der Altsteinzeit längst nicht komplett. Die Golf-Oasen-Hypothese hat einen Teil 2. Es ist ein Katastrophenszenario – ausgelöst vom Eiszeitklima. Geologen haben die Bühne dieses Dramas anhand von Bohrkernen dokumentiert und datiert:

· Vor rund 20 000 Jahren durchläuft die Erde das Letzte Glaziale Maximum, den Höhepunkt der letzten Kaltzeit.

· Vor 14 000 Jahren beginnt eine leichte Erwärmung. In Südwesteuropa ist dies die Zeit der Magdalenien-Kultur, in der altsteinzeitliche Künstler die Höhlenmalereien von Lascaux erschaffen. Die Eispanzer auf dem Festland beginnen zu schmelzen, der Meeresspiegel hebt sich weltweit. Der Indische Ozean schiebt zum ersten Mal seit 60 000 Jahren wieder eine schmale salzige Zunge durch die Straße von Hormuz.

· Als Erstes fließt Meerwasser in die Rinne des Urschatt und in die Seebecken. Vor 13 000 Jahren füllt sich das Eastern Basin, vor 12 500 Jahren das Central Basin, 1000 Jahre danach erobert das Meer auch das Western Basin.

· Das in Richtung Arabien sanft ansteigende Gebiet südlich der Urschatt-Rinne, nach wie vor fruchtbar und von Flüssen durchzogen, bleibt bis vor 9000 Jahren – vertrauter ausgedrückt: bis 7000 v.Chr. – Festland. Doch dann treibt der jähe Temperaturanstieg im Holozän, dem gegenwärtigen Warmzeit-Intervall, den Meeresspiegel radikal hoch.

· Zwischen 7000 und 6000 v.Chr. bricht die salzige Flut rascher als je zuvor nach Westen und Norden ein, in Richtung der heutigen Küstenlinien – zeitweise mit einem Tempo von über einem Kilometer pro Jahr.

Die Menschen, die damals in der Golf-Oase lebten, hatten eine schlimme Zeit. Zehn aufeinander folgende Jahrhunderte lang sahen alle, die an einem Wohnplatz nahe der Küste aufgewachsen waren, die vertraute Landschaft ihrer Jugend auf Nimmerwiedersehen ertrinken. Zehn Jahrhunderte lang packten immer wieder Menschen ihre Habseligkeiten und zogen auf höheres Gelände – bis auch dort eines Tages die gierige Flut an Zeltstangen oder Hütten leckte. Zehn Jahrhunderte einer traumatischen Erfahrung von Flut und Vertreibung, die sich tief ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung grub.

DER SINTFLUT-MYTHOS

Diese Urerfahrung hat in vielen Regionen der Welt in Form von Mythen ihren Niederschlag gefunden. Denn der steigende Meeresspiegel war ein globales Phänomen. Es hat überall, wo Menschen in Küstennähe lebten, seine Beobachter verstört, Erklärungen gefordert, dichterische Ausschmückungen erfahren. Jeffrey Rose findet drei Fakten bemerkenswert:

· Die ältesten überlieferten Schilderungen einer katastrophalen Überschwemmung stammen alle vom Nordufer des Persischen Golfs. Die biblischen Sintflut-Passagen sind jüngeren Datums und wurden frühestens ab dem 10. Jahrhundert v.Chr. aufgezeichnet. Die Sintflut der Bibel hat unverkennbare Vorbilder auf den Keilschrifttafeln des sumerisch-babylonischen Gilgamesch-Epos, des babylonischen Atrahasis-Epos aus dem 19. Jahrhundert v.Chr. und des auf 2150 v.Chr. datierten sumerischen Eridu-Schöpfungsmythos.

· Ab 5500 v.Chr. erscheinen entlang der Golfküste sozusagen über Nacht mehr als 60 markante jungsteinzeitliche Siedlungsplätze. Die Archäologen im angloamerikanischen Sprachraum nennen sie aufgrund von stilistischen Merkmalen der Keramik „Obed-related“: Die Töpferwaren stammen nämlich aus dem Süden Mesopotamiens, dem Zentrum der damaligen Obed-Kultur. Aus der Zeit vor 5500 v.Chr. finden sich an der Golfküste bloß vereinzelte Lagerstellen von Jägern und Sammlern.

· Und: „Lediglich ein einziger Obed-Fundplatz mit datierbarer Schichtenfolge, Ain Qannas, weist einen darunter liegenden älteren Fundhorizont auf“, sagt Rose. „Alle anderen entstanden ohne Vorläufer auf zuvor unbewohntem Land.“ Neusiedler also, aber keine Steppenjäger, sondern Menschen auf einer höheren Kulturstufe. Woher kamen sie?

Um eine Schlussfolgerung aus den Indizien ist Rose nicht verlegen: „Ich denke, hinter dieser Explosion von neuen Siedlungen ab 5500 v.Chr. steckt die einheimische Population aus dem Golfbecken, die in der Endphase der Überflutung vor dem vordringenden Meer floh.“

Einen Hinweis auf eine Fluchtbewegung aus dem Herzen des Golfs sieht der Wissenschaftler auch auf der östlichen Seite des Beckens, am iranischen Ufer: Um 5000 v.Chr. ist hier der erste Tiefland-Bewässerungsfeldbau archäologisch nachweisbar. Diese Innovation, für die im iranischen Hinterland ebenfalls keine Vorläufer erkennbar sind, gilt als Beschleuniger für die Entstehung von Hochkulturen: Sie macht landwirtschaftliche Überschüsse möglich und bringt soziale Neuerungen mit sich – etwa das Führen eines Jahreskalenders für die richtigen Aussaat- und Erntezeiten, Arbeitsteilung, eine hierarchische Arbeitsorganisation mit Anführern und Gefolgschaften.

TIERZÜCHTER, BAUERN, SEELEUTE

„Die Obed-Gemeinschaften an der westlichen Golfküste hatten den Übergang zur jungsteinzeitlichen Wirtschaftsform bereits in vollem Umfang vollzogen, noch bevor sie sich dort niederließen“, erklärt Rose. „Sie standen unmittelbar vor der Entwicklung einer städtischen Zivilisation.“ Er zählt auf: steinerne architektonische Strukturen, rechteckige Hausgrundrisse anstelle von runden Jägerhütten, Anbau von Dattelpalmen, Tierzucht, Fischerei – und ein sehr fortgeschrittener Bootsbau.

Der Archäologe Robert Carter vom University College London untersuchte Keramikscherben aus küstennahen Obed-bezogenen Fundstätten in Irak, Kuwait, Saudi-Arabien und Iran. Seine Ergebnisse bestätigen frühere Vermutungen, dass bereits um 5500 v.Chr. ein etabliertes Fernhandelsnetz zwischen dem Süd-Irak und den Küstensiedlungen am Golf existierte – auf Wasserwegen. „Diese Menschen bauten Schiffe, mit denen sie zwischen Süd-Mesopotamien und der arabischen Küste Menschen und Waren mehrere Hundert Kilometer über offenes Meer transportierten“, sagt Carter.

In den Fundamenten der jungsteinzeitlichen Siedlung H 3 bei As-Sabiyah in Kuwait kamen etliche Hinweise auf frühe Schifffahrt ans Licht:

· ein Keramikmodell eines Schilfbündelbootes,

· die auf eine Keramikscheibe gemalte Darstellung eines Bootes mit zwei Masten – der älteste Beleg der Welt für die Erfindung von Masten und Segeln,

· zahlreiche mit Muschelschalen über- krustete, Schilfabdrücke tragende Erdpechstücke, die einst Teile der Abdichtung von Schilfbündelbooten waren.

Dass Obed-Töpferwaren aus Mesopotamien sogar an der Straße von Hormuz ausgegraben wurden, beweist die Reichweite des Seehandelsnetzes über mehr als 1000 Kilometer. Was hatten die Menschen der Küstensiedlungen den Keramikmanufakturen als Tauschwaren zu bieten? Carter vermutet: Perlen, Feuerstein, Vieh, in der Sonne gedörrten Fisch. Und er legt Wert auf die Feststellung: „Das war mehr als nur ein gelegentlicher, zufällig zustande kommender Tausch – es war ein seit vielen Generationen bestehendes stabiles, strukturiertes, ausgereiftes Handelssystem.“

ÜBERFLUTETE PUZZLESTEINE

Genauso ausgereift wie die gesamte jungsteinzeitliche Kultur dieser Golfküstenbewohner, argumentiert Jeffrey Rose. Mit den Hinterlassenschaften der unmittelbaren Vorgänger, der Jäger und Sammler des frühen Holozäns, habe die materielle Kultur dieser Menschen keinerlei Gemeinsamkeit. Es sei keine allmähliche „ Neolithisierung“ zu erkennen, kein evolutionärer Übergang von den Jäger-Sammlern zur Lebensweise von Fischern, Händlern, Viehzüchtern und Pflanzern. „Die fehlenden Steine des archäologischen Puzzles, die diesen Übergang dokumentieren, existieren sicherlich. Aber sie sind nicht an der heutigen Küste zu finden, weil sie – meiner Ansicht nach – in den Tiefen des Golfs liegen.“

Hans-Peter Uerpmann, der sich so gerne mit Rose kabbelt, gibt unbeeindruckt Kontra: „Ich denke, die neolithischen Siedler an der arabischen Küste waren Einwanderer aus dem Norden.“ An der Fundstätte Dschebel Faya in den Vereinigten Arabischen Emiraten barg sein Team in einem 10 000 bis 6000 Jahre alten Grabungshorizont jungsteinzeitliche Pfeilspitzen, die „genau so aussehen wie die PPNB-Spitzen aus der Levante“.

Das Kürzel PPNB steht für Pre-Pottery Neolithic-B, „ Präkeramisches Neolithikum B“. Es ist der Name für eine Kulturstufe im östlichen Mittelmeerraum, die etwa von 8800 bis 7000 v.Chr. dauerte. Die Menschen betrieben bereits Ackerbau und Viehzucht, fertigten aber noch keine Behälter aus Ton. Typische Pfeilspitzen dieser Epoche waren die sogenannten Byblos-Spitzen, die der Tübinger Wissenschaftler in den Funden vom Dschebel Faya wiederzuerkennen glaubt. Rose hält dagegen: „Diese angeblichen PPNB-Spitzen findet man nur selten in den Siedlungen am Golf. Das ist auch nicht verwunderlich, weil die Menschen am Meer vor allem gefischt und wenig gejagt haben.“

Wichtiger ist für Rose das Argument, dass das Golfbecken vor dem finalen Einbruch des Meeres zwischen 7000 und 6000 v.Chr. die Verlängerung des Fruchtbaren Halbmondes war – des langgezogenen Streifens zwischen Palästina, Süd-Anatolien und dem Zweistromland, in dem Ackerbau und Tierhaltung erfunden wurden. „ Warum soll gerade die fruchtbare Golf-Oase nicht eine der Regionen gewesen sein, in der Menschen die jungsteinzeitliche Wirtschaftsweise entwickelt haben?“, fragt der Archäologe.

Hans-Peter Uerpmann grinst fröhlich und spricht ein Wort der Versöhnung: „Wenn ich daran denke, was ich als junger Dozent meinen Studenten alles als gesichertes Wissen erzählt habe … Ich habe schon so oft in meinem Leben meine wissenschaftliche Meinung an neue Fakten anpassen müssen, dass ich kein Problem damit hätte, gegebenenfalls Jeffs Golf-Oase zu akzeptieren. Aber vorher möchte ich handfeste Beweise sehen.“

KARTIERUNG EINSTIGER FLÜSSE

Die Chancen dafür sind gestiegen. Im Oktober 2012 tagte in Bahrains Hauptstadt Manama eine Unesco-Konferenz über das Unterwasser-Menschheitserbe im Golf. Vor allem Teilnehmer aus Abu Dhabi, Kuwait, Bahrain und Oman kündigten große Unterwasser-Surveys an. Bislang am weitesten fortgeschritten sind geophysikalische Untersuchungen an der Nordwestküste des Emirats Katar, unter Leitung des britischen Archäologen Richard Cuttler. Zusammen mit einheimischen Kollegen kartieren die Forscher beispielsweise den Verlauf einstiger Flüsse in Gegenden, die heute unter Wasser liegen.

Wo würde Jeffrey Rose vor allem nachschauen? „Erstens an der saudi-arabischen Küste gegenüber der Insel Bahrain“, rät er. „ Dort sind etliche heute untermeerische Süßwasserquellen – rund um diese Quellen würde ich suchen.“ Zweitens schlägt er die seichte Schelfregion vor Abu Dhabi vor, die „Great Pearl Bank Barrier“. Früher wegen ihrer wertvollen Perlen gerühmt, die Taucher hier aus nur etwa zehn Meter Tiefe vom Meeresboden holten, könnten die Great Pearl Banks auch einen archäologischen Schatz bergen, vermutet Rose: „Ich sehe eine große Chance, dass genau da altsteinzeitliche Relikte liegen.“ ■

von Thorwald Ewe

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