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Die Frau mit den Schutzengeln

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Die Frau mit den Schutzengeln
Mit nur 41 Jahren trifft Susanne Lietz ein Schlaganfall. Dank neuer Therapien kann ihr geholfen werden.

Einige Passagiere in der S-Bahn müssen Susanne Lietz etwas angesehen haben. Ein Mann bietet ihr seinen Platz an. Jemand macht das Fenster auf. Sie spürt mit dem Fahrtwind den kalten Angstschweiß auf der Haut und dann den Magen, der revoltiert. In Mahlsdorf, noch im Berliner Speckgürtel, steigt sie aus und erbricht sich. Unter den bitteren Geschmack mischt sich Erleichterung. Es geht besser. Susanne Lietz nimmt die nächste S-Bahn – zur Arbeit, wie sie später erzählen wird. Am Bahnhof Friedrichstraße will sie an diesem Morgen des 30. Mai 2012 Brötchen kaufen für ein Frühstück mit ihrem Chef. Ein Gedanke an ihren Lebenspartner lässt sie das Mobiltelefon zücken. Doch das Gerät entgleitet ihr. Sie bückt sich und sackt zusammen.

Wie durch einen Schleier sieht Susanne Lietz eine Frau auf sich zu laufen, die sich dann über sie beugt und sagt, sie werde den Notarzt rufen. „Ich muss doch zur Arbeit“, wehrt Susanne Lietz ab. „Können Sie mich zur U-Bahn bringen?“ Die Antwort der Frau wird später in ihrem Kopf nachhallen: „Kommt nicht infrage. Die Arbeit kann warten.“ Dann erlischt Susanne Lietz‘ Erinnerung.

„Zeit ist Gehirn“

Gegen halb elf Uhr führt Neurologe Oliver Wengert in der Notaufnahme der Berliner Charité den Finger vor dem Gesicht von Susanne Lietz von links nach rechts. Sie soll der Bewegung mit ihrem Blick folgen. Doch ihre Augen gefrieren auf der Mittellinie und schaffen es nicht nach links. Ihre Stimme klingt verwaschen. Der linke Mundwinkel hängt herab, die Gesichtshälfte ist im unteren Teil gelähmt. Den linken Arm kann sie nicht heben.

„Zeit ist Gehirn“, pflegen Schlaganfallspezialisten zu sagen. Je schneller sie den Patienten behandeln, desto weniger Nervenzellen sterben und desto geringer sind Beeinträchtigungen wie Lähmungen und Sprachverlust. Doch oft kommt jede Hilfe zu spät. Viele überfällt das Fiasko im Schlaf, oder sie liegen stundenlang reglos in der Wohnung.

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Jedes Jahr trifft rund 265 000 Menschen in Deutschland ein Hirnschlag. In einem Teil ihres Gehirns versiegt abrupt die Blutzufuhr. Diese Unterbrechung kann zwei Ursachen haben: Bei 15 Prozent der Patienten ist ein Gefäß gerissen, wodurch es zu einer Blutung im Kopf kommt. Weitaus häufiger, bei 85 Prozent der Betroffenen, blockiert ein Gerinnsel ein Gefäß. Im abgeschnittenen Gebiet sterben Minute für Minute weitere Zellen ab. Je nachdem, ob eine Blutung oder ein Gefäßverschluss den Schlaganfall verursacht hat, muss der Patient anders behandelt werden.

Neuroradiologe Christian Bauknecht klickt durch die computertomografischen Bilder von Susanne Lietz‘ Brustwirbelsäule aufwärts bis zur Schädeldecke. Auf Höhe des Ohrs hält er an: „Da sind schon Areale untergegangen.“ Die rechte Hirnhälfte ist im hinteren und mittleren Drittel einen Hauch blasser. Der aufgehellte Bereich berührt das Sprach-, das Seh- sowie das Bewegungszentrum und streift das Stammhirn. „Ein klassischer Schlaganfall dort verursacht schwere Schäden“, sagt Bauknecht. Manche Patienten können nicht mehr richtig sprechen und sich nur noch unkoordiniert bewegen. Sie können sich weder alleine anziehen noch selbstständig essen. Sie vernachlässigen die linke Körperseite, essen den Teller nur auf der rechten Hälfte leer und wenden den Kopf nach rechts, wenn sie von links angesprochen werden. Manche Frauen schminken sich nur noch das halbe Gesicht.

Welches Drama sich im Kopf von Susanne Lietz abgespielt hat, macht eine andere Röntgendarstellung noch deutlicher. Mit jodhaltigem Kontrastmittel im Blut erscheint der Baum der Gefäße. Das Weiß der mittleren Hirnarterie ist in der rechten Gehirnhälfte auf einer Strecke von etlichen Zentimetern durch ein Gerinnsel unterbrochen. Nur ein dünner Blutfaden führt in die Randbezirke der rechten Hirnhälfte. Im schlimmsten Fall können bei einem solchen Mediainfarkt drei Viertel der Hemisphäre verloren gehen.

Kommt der Patient binnen viereinhalb Stunden ins Krankenhaus, lässt sich die Katastrophe unter Umständen abwenden. Ein blutverdünnendes Medikament, der „rekombinante Plasminogenaktivator“, wird über die Armvene gespritzt, um die Nervenzellen sofort wieder mit Blut zu versorgen. Je früher diese Lyse bei einem Gefäßverschluss einsetzt, desto besser.

Hartnäckiges Gerinnsel

Susanne Lietz hat Glück im Unglück, dass sie nur einen halben Kilometer von der Charité entfernt zusammengebrochen ist. Eine Stunde danach läuft die klare Flüssigkeit mit dem blutverdünnenden Medikament bereits in ihren Körper. Die Ärzte starren auf den Monitor, auf dem die Gefäße in Susanne Lietz‘ Kopf zu sehen sind. Sie hoffen, dass die verstopfte mittlere Hirnarterie in der rechten Gehirnhälfte als weiße Linie aus dem Dunkel auftaucht. Denn dann wäre sie wieder durchlässig. Doch nichts geschieht. Bei Mediainfarkten versagt die Lyse oft. Christian Bauknecht ist einer von drei Spezialisten an der Charité, der die Verstopfung eines Gefäßes im Gehirn beseitigen kann. Er beherrscht die mechanische Rekanalisation, bei der das Blutgerinnsel mithilfe eines metallenen Maschengeflechts aus der verstopften Arterie gefischt wird. Wenn es damit gelingt, den Verschluss zu öffnen, überleben die Patienten eher und sind hinterher gesünder, so die bisherigen Erfahrungen. Doch bei Susanne Lietz schlägt der Versuch fehl, Bauknecht erwischt das Gerinnsel nicht.

Die Ärzte entschließen sich zu Plan B – gefährlich und zugleich die letzte Option. Mit vier Bar, dem Doppelten des Drucks von einem Autoreifen, bläst Bauknecht einen kleinen Ballonkatheter an der Engstelle im Kopf auf. „Damit kann man die Arterie auch kaputt machen“, warnt er. Eine Hirnblutung wäre die Folge. Das Gefäß öffnet sich widerstrebend unter dem Druck des Ballons. Im Röntgenbild bekommt es Dellen wie ein zu oft geknickter Gartenschlauch. Die Arterie wird durchlässig, bleibt aber 80 Prozent enger als üblich. Bei drei von vier Patienten gelingt es, einen Gefäßverschluss mit einem Katheter zu öffnen. Bei den meisten aber nur teilweise. Susanne Lietz ist eine davon.

Schlaganfall trotz sport

Als der Neurologe Oliver Wengert den Lebensgefährten von Susanne Lietz anruft, steuert der gerade einen Umzugslastwagen. „ Lebt meine Frau, lebt sie?“, brüllt Henry Fiedler in sein Mobiltelefon. Der Chef des Umzugsunternehmens, für das er arbeitet, fährt ihn mit dem Lkw ins Krankenhaus. Fiedler weint und zittert. Seine Frau wird operiert, heißt es in der Klinik. Erst nach stundenlangem Warten schieben die Ärzte Susanne Lietz im Bett vorbei. Aus ihrem Körper quellen Dutzende von Schläuchen und Kabeln. Sie liegt im künstlichen Koma. Fiedler sackt zusammen.

Mit 41 Jahren ist Susanne Lietz eigentlich zu jung für einen Schlaganfall. Der Durchschnittspatient ist 73. Im Laufe des Lebens verkalken naturgemäß die Gefäße. Klumpen aus geronnenem Blut können sich dann von den Wänden lösen und im Gehirn eine Arterie zusetzen. Aber Susanne Lietz‘ Gefäße sind sauber und elastisch. „Bei jungen Menschen muss man nach selteneren Ursachen suchen“, sagt Neurologe Martin Köhnlein. Gerinnungsstörungen des Blutes oder ein krankes Herz können schuld sein. Übergewicht, Rauchen, Bluthochdruck und die Antibabypille begünstigen zudem einen Hirninfarkt.

Doch Susanne Lietz ist schlank und radelt viel. In jungen Jahren nahm sie sogar an Eisschnelllauf-Wettkämpfen teil. Sie raucht auch nicht. Allerdings verhütet sie seit 25 Jahren hormonell und hat wie ihr Vater Bluthochdruck. 2003 brach sie schon einmal im Büro zusammen. Der Amtsarzt bemerkte eine Herzrhythmusstörung, die er damit erklärte, dass Susanne Lietz als Teenager abrupt mit dem Eisschnelllauf aufgehört und nie abtrainiert hat. Ihr Herz schlägt seither im Doppeltakt statt im gesunden Sinusrhythmus. Beim ersten Schlag wirft das Organ noch Blut aus. Aber der zweite ist fast wirkungslos. „Das begünstigt einen Schlaganfall“, meint Köhnlein. Ein karger Blutstrom ist leichter zu unterbrechen.

In der Charité finden die Ärzte eine weitere Anomalie am Herzen. Vor der Geburt sind der linke und rechte Vorhof durch ein kleines Loch in der Vorhofscheidewand miteinander verbunden. Dieses Foramen ovale verschließt sich bei vier von fünf Kindern nach der Geburt. Bleibt es offen, „ermöglicht es einen Kurzschluss im Herzen. Ein Blutklumpen, der sich schon mal unbemerkt in den Beinvenen bildet, kann dann vom linken Vorhof ungehindert in den rechten Vorhof gelangen und von dort hoch ins Gehirn schießen“, schildert Köhnlein die Gefahr. Susanne Lietz‘ Herz weist ein Löchlein auf – und direkt daneben eine Aussackung, ein Vorhofseptum-Aneurysma, an dem sich leicht Strudel bilden, in denen sich Blutklümpchen verfangen können. Auch das begünstigt einen Hirnschlag.

Scheu vor der Operation

Schon vor Jahren hatten Kardiologen Susanne Lietz geraten, den Herzrhythmusfehler in einem minimalinvasiven Eingriff korrigieren zu lassen. Doch sie entschied sich dagegen – obwohl es unter ihrer Brust manchmal so heftig pochte, dass sie nur auf der rechten, dem Herzen abgewandten Seite schlafen konnte. Trotzdem scheute Lietz, die als Kind ihre Mutter und kleine Geschwister in einer Klinik verloren hat, vor der Operation zurück.

Nach dem Schlaganfall raten die Ärzte ihr dringend zu der Herzoperation, um das Risiko eines neuerlichen Schlaganfalls zu senken. Bei 8 bis 15 Prozent der Patienten kommt es binnen eines Jahres zu einem erneuten Hirninfarkt.

Susanne Lietz fasst einen Entschluss. Es ist noch nicht klar, ob sie eines Tages wieder arbeiten und radeln kann, da ist ihr Körper am 18. Juni 2012 schon wieder mit einem grünen Tuch bedeckt. Nur eine kleine Partie an der Leiste schaut hinter Klarsichtfolie hervor, in die Kardiologe Ivan Diaz mit einer Nadel in die Beckenvene sticht. Dunkelrotes Blut quillt heraus.

„Jetzt kriegen sie Propofol, das Mittel, das auch Michael Jackson bekommen hat. Aber wir passen ein bisschen besser auf“, witzelt Diaz. Eine Minute später schläft Susanne Lietz. Über die Leiste schiebt Diaz zwei Katheter die Vene hinauf in die rechte Seite des Herzens. Röntgenaufnahmen helfen ihm, sich zu orientieren. Eine Katheterspitze platziert er im rechten Vorhof, die andere in der Herzkammer. Im Ausflusstrakt des rechten Ventrikels vermutet Diaz die Zellen, die den unnötigen zweiten Herzschlag auslösen. Diese will er veröden. Oft ist die Partie nur wenige Millimeter groß. Von der Decke hängt ein Schwenkarm mit sieben Monitoren. Im ersten Schritt muss Diaz jene Region finden und kartieren, die den ineffektiven zweiten Herzschlag auslöst. Dazu misst er die elektrischen Signale einmal direkt im Herzen und einmal an der Haut. Je näher er dem Herd des zweiten Schlags im Herzen kommt, desto früher sollte er die Doppelspitze dort im Vergleich zum Signal an der Haut detektieren. Wenn beide Doppelschläge mindestens 20 bis 30 Millisekunden auseinander liegen, ist er der Quelle nahe, lehrt die Erfahrung.

Aufwecken aus der Narkose

„Ein Routineeingriff, nicht besonders anspruchsvoll“, schickt Diaz noch vorweg. Doch Susanne Lietz‘ Herz, das im wachen Zustand immerzu in Doppelschlägen holpert, schwingt sich unter Narkose in den gesunden Sinustakt ein. Manche Patienten haben unter Narkose mehr Doppelschläge, andere weniger – aber gar keine wie bei Susanne Lietz, das ist selten. Schwester Karin reduziert das Betäubungsmittel.

„Frau Lietz, Frau Lietz, Augen auf!“, ruft Diaz. Vereinzelt huscht ein Doppelschlag über den Monitor. Aber es sind nicht viele. Die Schwester klemmt das Betäubungsmittel ganz ab. Allmählich kommen immer mehr Doppelspitzen. Diaz bewegt den Katheter sanft hin und her und ortet die Signale. Auf dem Monitor wächst eine rote Region, der Quell des Rhythmusfehlers.

„Frau Lietz, wir lassen sie wieder schlafen“, sagt Diaz. Das Propofol rinnt in das Blut der Patientin. Kurz darauf drückt Diaz auf einen Fußtaster wie bei einer Nähmaschine. Es brummt und sirrt zugleich. Die Spitze des Katheters erhitzt nun das umliegende Gewebe und verödet es. Diaz lässt den Fußtaster los, rückt den Katheter ein paar Millimeter auf dem roten Herd weiter und tritt wieder in das Pedal. Auf dem Monitor tauchen die verödeten Stellen als dunkelrote Tupfen auf. Bald sieht es aus, als habe jemand rote Reißzwecken dicht an dicht gesetzt. Über den Monitor wandern keine Doppelschläge mehr.

Wovon haben Sie geträumt?

„Wir lassen sie aufwachen“, sagt Diaz. Langsam kommt Susanne Lietz zu sich. „Wovon haben sie geträumt?“, fragt der Arzt. „Von der Hochzeit“, sagt die Patientin. Susanne Lietz wollte früher nie heiraten. Aber nach dem Schlaganfall hat sie nun vor, ihrem Lebensgefährten einen Antrag zu machen. Auf dem Monitor mehren sich die Doppelzacken. „Wir machen eine neue Karte“, meint Diaz. Der Teppich aus roten Reißzwecken verschwindet. Wieder fängt Diaz Doppelschlag für Doppelschlag ein. Der neue Herd liegt unmittelbar benachbart zur bereits verödeten Stelle. Es kommt vor, dass die Doppelschläge nicht verschwinden, wenn die betroffene Stelle zu groß ist oder die Zellen zu tief im Organ sitzen.

Noch immer zucken vereinzelte Doppelschläge über den Monitor. Je mehr Bereiche verödet werden, desto mehr schwillt das Gewebe an und desto schlechter dringt die Hitze ein. „Irgendwann wird es zu riskant“, meint Diaz, der nun schon über zwei Stunden auf seinem OP-Stuhl sitzt. Er beschließt, den Eingriff zu beenden, obwohl er nicht sicher ist, ob er erfolgreich war.

Maximal eine Stunde werde die Operation dauern, hat man Henry Fiedler gesagt. Seit drei Stunden wartet er auf dem Gang. Seine Hände sind nass geschwitzt. „Geht es meiner Frau gut? Hatte sie den Holzengel in der Hand, den ich ihr heute Morgen mitgebracht habe“, bricht es aus ihm heraus. Es ist der zweite Schutzengel. Den ersten – aus Bernstein – hatte er ihr unmittelbar nach dem Schlaganfall geschenkt. Wieder ist die Angst übermächtig, wie damals.

Als Susanne Lietz zum ersten Mal nach dem Schlaganfall die Augen öffnet, liegt sie auf der neurologischen Intensivstation. Ihre linke Körperseite ist geschwächt. Aber sie kann beide Arme und Beine bewegen. Eine Logopädin bemerkt eine Schluckstörung. Viele Schlaganfallpatienten verschlucken sich beim Essen. Keime dringen in die Lunge, und sie entzündet sich – eine der größten Gefahren nach einem Hirninfarkt. Susanne Lietz darf deshalb nur Brei essen. Als sie begreift, dass sie einen Schlaganfall erlitten hat, kann sie nur an eines denken: „Ich muss doch noch arbeiten – für meinen Sohn.“ 300 Euro bekommt der 22-Jährige jeden Monat für sein Studium der Pflegewissenschaften.

„wir kreisen mit den Armen“

Physiotherapeutin Conni Dietl versucht Susanne Lietz vom ersten Tag an auf die Beine zu bringen. Je früher Schlaganfallpatienten sich wieder bewegen, desto eher genesen sie, haben Mediziner in den letzten Jahren gelernt. „Wir kreisen mit den Armen“, sagt Dietl im Ton einer Sportlehrerin, die 20 Schüler motivieren muss. Sie kontrolliert mit Argusaugen, dass sich die Kabel nicht verheddern. „In den Bauch atmen. Über die Nase tief ein und über den Mund aus. Der Bauch kann ruhig eine Kugel werden.“ Wenn die Patienten tage-, manchmal wochenlang ans Bett gefesselt sind, flacht die Atmung ab. Dadurch erlahmt der Kreislauf. Dem sollen die Übungen entgegenwirken.

Die Physiotherapeutin will das Stehen üben. Susanne Lietz setzt sich an die Bettkante. Das Piepen des Überwachungsgerätes beschleunigt sich. Der Blutdruck sackt ab. Ein Pfleger eilt herbei und verändert die Dosierung des Blutdruckmedikaments. Susanne Lietz soll von einem Bein auf das andere treten, damit der Kreislauf wieder in Schwung kommt. Sie wirkt enttäuscht. Seit einer Woche ist sie nun auf der Intensivstation. Für die Ärzte ist es ein Wunder, dass sie alle Glieder regen kann und bei Sinnen ist. Aber sie ist unglücklich, dass sie nicht einmal die zwei Meter bis zur Tür laufen kann. Immer wieder streikt ihr Kreislauf, und ihre Beine knicken ein. Das sei normal nach einer OP, beschwichtigen sie die Ärzte.

Vier Wochen später in der Schlaganfallabteilung der Charité, Neurologe Jan Sobesky ist bei der Visite: Er malt eine Linie auf ein Papier. „Zeigen sie mir mal die Hälfte“, sagt er. Susanne Lietz teilt die Linie mittig mit einem Strich. „Perfekt.“ Sobesky wendet das Blatt und verteilt Kreuze mit dem Kugelschreiber darüber. „Streichen Sie die bitte der Reihe nach durch.“ Susanne Lietz geht langsam von links nach rechts. In der Mitte übersieht sie ein Kreuz. „Haben Sie das Gefühl, dass sie manchmal Dinge nicht ganz erfassen oder beim Lesen oder Fernschauen etwas nicht verstehen?“, fragt Sobesky. „Nein, ich bin ganz stolz, dass ich das Buch, das mir mein Sohn mitgebracht hat, schon fast ausgelesen habe“, entgegnet die 41-Jährige.

Nicht in den Finger schneiden!

Sobesky spricht „von einem heftigen Ereignis, das glimpflich vorübergegangen ist“. Susanne Lietz‘ Herz schlägt jetzt im gesunden Sinusrhythmus. Sie kann lesen, schreiben und dem Gespräch folgen. Auch Essen und Gehen bereiten ihr keine Probleme. Geblieben sind nur das Loch und die Aussackung im Herzen und auch das verengte Gefäß im Gehirn. Alle drei bedeuten ein gewisses Risiko für einen erneuten Infarkt. Deshalb muss Susanne Lietz künftig das blutverdünnende Medikament Marcumar nehmen. „Das schließt die Gefahr eines zweiten Schlaganfalls fast aus“, erklärt der Arzt. „Aber wir machen Sie damit zum künstlichen Bluter.“ Einen Sturz, sogar einen Schnitt in den Finger muss Susanne Lietz vermeiden, sonst könnte sie verbluten.

Doch die wirklich einschneidende Nachricht kommt erst kurz vor der Entlassung aus der Charité. Eine Neurologin stellt in einem Gehirntest fest, dass Susanne Lietz‘ Aufmerksamkeit und ihr Langzeitgedächtnis vermindert sind. Beides muss sie in einer Rehabilitationsklinik trainieren.

Zwischen Rollstuhlfahrern und Patienten mit Gehhilfe wirkt Susanne Lietz in der Bernauer Brandenburgklinik wie eine Besucherin. Die Haare frisch geschnitten und rötlich gefärbt, die Nägel fliederfarben lackiert, läuft sie flotten Schrittes durch die Gänge. Nur Physiotherapeut Lutz Hoffmann bemerkt im Fitnesstraining, dass ihr rechter Arm am Seilzug geringfügig kraftvoller zupackt als der linke. Er achtet penibel darauf, dass sie beide Arme gleichmäßig beansprucht, damit sich das Ungleichgewicht zurückbildet. Und: Ihr Gleichgewichtssinn hat gelitten. Beim Anziehen wankt Susanne Lietz, wenn sie auf einem Bein steht und das andere in das Hosenbein schiebt. In der Kur trainiert sie deshalb die Balance.

Erst vier Tage vor dem Ende der Kur beginnt das Gehirntraining. Am Computer steuert Susanne Lietz einen Zug, wobei sie auf die Signale und die Geschwindigkeit achten muss. Sie soll lernen, schneller auf mehrere Sachen gleichzeitig zu reagieren. „Die Patienten werden nur mit einigen Blatt Papier in die Rehaklinik verlegt. Viele Informationen, etwa genaue Befunde, gehen verloren“, kommentiert Andreas Meisel von der Charité. Das Gehirntraining sollte idealerweise sofort beginnen.

Als Susanne Lietz aus der Rehaklinik entlassen wird, kann sie zwar auf einem Bein balancieren. Aber sie darf weder Auto- noch Radfahren – aufgrund der nach wie vor verminderten Aufmerksamkeit. In ihren Entlassungspapieren steht, sie brauche einen Arbeitsplatz ohne Zeitdruck mit regelmäßigen Pausen und ohne Ablenkung. Für Susanne Lietz ist das ein großer Schock. „Ich möchte doch unbedingt an meinen bisherigen Arbeitsplatz zurück“, meint sie.

„Das Dogma, dass sich nach den ersten Monaten nichts mehr verbessert, ist überholt“, macht ihr Meisel Mut. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen sogar eine neuropsychologische Langzeitbehandlung. Die wird aber selten verordnet, und auf einen Termin muss man Monate warten. Susanne Lietz hat Glück, weil sich Meisel einschaltet. Sie kann im August mit dem Training beginnen. Bei einer Ergotherapeutin ruft sie im Geiste Einkaufszettel auf, tippt Texte ab und rechnet. Sie teilt fünf Kollegen gedanklich in Schichten ein. „Die Lücke zur vorherigen kognitiven Verfassung wird immer kleiner werden“, sagt Meisel.

Neuanfang mit Bernsteinengeln

Dreieinhalb Monate nach dem Schlaganfall fährt Susanne Lietz am 13. September 2012 wieder mit der S-Bahn. Nur ein paar Stunden arbeitet sie an diesem Tag – an ihrer bisherigen Stelle. Die Ärzte haben zugestimmt. Um ihren Hals trägt sie zwei filigrane Schutzengel aus Bernstein, die ihr Kraft geben sollen. Der eine stammt von ihrem Mann und der andere von ihrer Schwester. Einer hat den linken Arm verloren. „Irgendwie passend“, findet Susanne Lietz, „denn mein linker Arm ist ja manchmal auch noch geschwächt.“ ■

Um eine Protagonistin für ihre Reportage zu finden, war SUSANNE DONNER wochenlang immer wieder in der Notaufnahme der Berliner Charité.

von Susanne Donner

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Lesen

Michael Hessinger, Günther Erick Klein, Walter Kreuzig, Edmund Pabst, Kurt Tiesenhausen SCHLAGANFALL: ERKENNEN – REHABILITATION – VORBEUGUNG Verlagshaus der Ärzte, Wien 2012, € 14,90

Peter Assies AUF EINEN SCHLAG IST ALLES ANDERS Mein neues Leben nach einem Schlaganfall Rita G. Fischer, Frankfurt 2007, € 9,80

Internet

Auf der Website der Berliner Schlaganfall-allianz informieren Ärzte der Charité rund um das Thema Schlaganfall: schlaganfallallianz.de

Die Deutsche Schlaganfall-Hilfe berät Betroffene und Angehörige: www.schlaganfall-hilfe.de/

Kompakt

· Ein Schlaganfall entsteht, wenn in Teilen des Gehirns abrupt die Blutversorgung versiegt.

· Ein Gerinnsel, das die Blutzufuhr blockiert, kann medikamentös aufgelöst oder mechanisch entfernt werden.

· Bei Susanne Lietz versagten beide Methoden. In einer aufwendigen Operation mussten die Ärzte deshalb ihr aus dem Takt geratenes Herz wieder stabilisieren.

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