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Zu viel Welt fürs Gehirn

Gesellschaft|Psychologie

Zu viel Welt fürs Gehirn
Sie reagieren leicht empfindlich, werden aber wegen ihres großen Einfühlungsvermögens geschätzt: hochsensible Menschen.

Dass sie anders ist, hat Martina Rosenberger schon immer gewusst. Die Goldschmiedemeisterin aus Bayern galt als „ ängstliches Kind“. Als sie mit fünf Jahren an einem Bahnhof die Einfahrt von Zügen erlebte, war das ein „akustischer Albtraum“ für sie. „Ich galt oft als merkwürdig, habe aber nie verstanden, was an mir falsch sein sollte“, sagt sie. Vor rund drei Jahren machte eine Freundin sie auf ein Buch aufmerksam, das von einer besonderen Eigenschaft handelte: Hochsensibilität. Für Martina Rosenberger war das ein Erweckungsmoment: „Die Entdeckung war eine Befreiung.“

Dieses erlösende Gefühl ist typisch für Menschen, die sich bei der Beschreibung von Hochsensibilität wiedererkennen. Pionierin auf dem Gebiet ist die amerikanische Psychologin Elaine Aron. Sie fand heraus, dass etwa 20 Prozent der von ihr untersuchten Menschen eine Persönlichkeitseigenschaft haben, die sie empfindlicher für innere und äußere Reize macht. Im Alltag bedeutet das: Ein vorbeirasender Krankenwagen mit Martinshorn ist für sie eine große Qual. Dafür spüren Hochsensible bei einer Party schon nach wenigen Minuten, wer an wem interessiert ist oder wer sich nicht leiden kann.

Da Hochsensible häufig zurückgezogen leben, sehen einige Persönlichkeitspsychologen in der Hochsensibilität eine Form von sozialer Angst. Doch neuere Studien stützen Arons bereits 1997 entworfenes Konzept, demzufolge Hochsensibilität eine Persönlichkeitseigenschaft ist, die vererbt wird. 2011 lieferten chinesische Forscher erste Erkenntnisse zur genetischen Ursache der Hochsensibilität. Sie analysierten das Erbgut von 480 Studenten und wiesen zehn Gen-Orte auf sieben Genen des Dopamin-Systems nach, die mit Hochsensibilität in Verbindung stehen. Zudem fanden dänische Wissenschaftler im selben Jahr heraus, dass ein höheres Sensibilitätslevel zumindest zum Teil auf das Serotonin-Transporter-Gen 5-HTTLPR zurückzuführen ist.

Auch das Gehirn von hochsensiblen Menschen funktioniert anders. 2011 wies Elaine Aron gemeinsam mit ihrem Ehemann Arthur Aron, der wie sie Psychologe an der State University of New York in Stony Brook ist, und Forschern der Universität Peking erstmals neurologische Besonderheiten bei Hochsensiblen nach: Die Wissenschaftler zeigten 16 chinesischen Studenten eine Serie von Landschaftsbildern in leicht bis deutlich abgeänderten Versionen. Die Probanden sollten die Veränderungen finden und benennen. Dabei zeichneten die Forscher die Hirnaktivität mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie auf.

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Bei den Hochsensiblen waren im Vergleich zu anderen Probanden Netzwerke aktiv, die mit visueller Aufmerksamkeit und Augenbewegungen in Verbindung stehen. Zudem waren sie beim Finden der Veränderungen langsamer, aber nicht weniger treffsicher. Die Deutung der Forscher lautete: Die Hochsensiblen achten stärker auf Details und brauchen bei der Reizverarbeitung mehr Zeit. Eine weitere Studie der Arons stützt die Annahme, dass Hochsensibilität ein grundlegendes Persönlichkeitsmerkmal ist. Die Ergebnisse müssten angesichts der kleinen Teilnehmerzahl allerdings in weiteren Studien überprüft werden.

Elaine Aron war der Hochsensibilität über eine Serie von sieben Studien auf die Spur gekommen. Sie führte zunächst Interviews mit 39 Studenten, um ein Konzept zu entwickeln. In den weiteren Studien untersuchte sie rund 1300 Personen und erstellte aufgrund der Daten einen Fragebogen zur Messung von Hochsensibilität.

In allen Gruppen gab es Probanden, die sehr empfindlich auf diverse Reize reagierten. Dazu gehörten visuelle und akustische Stimulationen sowie Koffein, Hunger, künstlerische Darstellungen, literarische Texte und auch die Stimmung anderer Menschen. Diese Versuchspersonen berichteten über starkes Unwohlsein, wenn sie sich in Situationen beobachtet fühlten, in denen Anforderungen an sie gestellt wurden. Sie waren relativ häufig überreizt und hatten das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Die aus diesen Eigenschaften entwickelte HSP-Skala (HSP steht für „Highly Sensitive Person“) misst drei „Sensibilitätsarten“: eine ästhetische Sensitivität für Feinheiten in Musik oder Kunst, eine niedrige Reizschwelle und eine leicht auslösbare Erregung. Die Werte korrelieren stark miteinander, weshalb die Forscherin auf ein einheitliches Merkmal schließt.

Elaine Aron testete die Versuchspersonen auch auf die Persönlichkeitsmerkmale Introvertiertheit und Neurotizismus, der sich durch emotionale Unsicherheit und Ängstlichkeit äußert. Es zeigte sich, dass die Sensibilität zwar mit beiden Eigenschaften zusammenhing, aber nicht gleichzusetzen war. „Dieses Ergebnis ist besonders wichtig, weil soziale Introversion meistens als identisch mit dieser Art von Sensibilität angesehen wird“, schreibt Aron. Der Rückzug von anderen Menschen sei jedoch lediglich eine Strategie, um Überstimulation zu entgehen. Außerdem hätten ihre Daten gezeigt, dass nicht alle Introvertierten hochsensibel sind, während es umgekehrt auch extrovertierte Hochsensible gibt.

Für das neurotische Verhalten einiger hochsensibler Menschen fand Aron ebenfalls eine Erklärung. Sie machte unter den Betroffenen solche mit guten und solche mit schlechten Kindheitserfahrungen aus. Ihre Annahme war: Wer unter schwierigen Bedingungen aufwächst und das intensiv erlebt, ist als Erwachsener anfälliger für Angst oder Depressionen – und somit neurotischer. Eine Untersuchung mit 309 Teilnehmern bestätigte: Menschen, die einen hohen Wert auf der HSP-Skala erreichen und eine problematische Kindheit hatten, sind als Erwachsene eher neurotisch.

Sehr empfindsame Menschen reagieren aber auch stärker auf positive Reize und können dadurch mehr von guten Bedingungen profitieren. Zu diesem Ergebnis kamen die niederländischen Entwicklungspsychologinnen Renske Gilissen und Marian Bakermans-Kranenburg von der Universität Leiden 2008: Sie prüften, wie viel Stress ängstliche Kinder im Gegensatz zu robusteren empfanden, wenn sie einen furchterregenden Film sahen. Elaine Aron nimmt an, dass die in dieser Studie als ängstlich bezeichneten Kinder eigentlich hochsensibel waren. Hatten die ängstlichen – also hochsensiblen – Kinder eine gute Beziehung zu ihrer Mutter, zeigten sie weniger körperliche Stresssymptome als die robusteren Kinder. Äußere Bedingungen wie eine gute Mutterbindung bestimmen demnach mit darüber, ob sich eine ausgeprägte Sensibilität günstig auswirkt oder nicht.

Evolutionsbiologisch könnte eine solche Eigenschaft durchaus sinnvoll sein, schreibt Aron 2012 in einem Review-Artikel. So neigen Individuen, die Reize tiefer verarbeiten, dazu, sich bei der Bewertung einer Situation mehr Zeit zu lassen und diese mit früheren Begebenheiten zu vergleichen. Sie beobachten, bevor sie handeln. Andere reagieren hingegen sofort. Am günstigsten für das Überleben einer Population ist offenbar eine Mischung aus beiden Verhaltensweisen innerhalb einer Gruppe. Biologen haben die beiden Muster bei mehr als 100 Tierarten entdeckt, unter anderem bei Fischen, Fruchtfliegen und Rhesusaffen.

Hinweise darauf, dass sich auch der Mensch in diese beiden Typen unterteilen lässt, fand der Entwicklungspsychologe Jerome Kagan von der Harvard University. Er stellte fest, dass es in Gruppen von Kindern stets einen recht stabilen Anteil von 15 bis 20 Prozent gibt, die gehemmt sind, ein neues Spielzeug auszuprobieren oder mit fremden Kindern zu sprechen. In Elaine Arons Studien erwiesen sich jeweils 10 bis 35 Prozent der Teilnehmer als hochsensibel – je nach Stichprobe.

Dass man mit Hochsensibilität gut leben kann, zeigt das Beispiel von Martina Rosenberger. Ihre Besonderheit gehört zu ihrem Berufs- und Privatleben. Sie erklärt: „Das Beste, was man tun kann, ist diese Veranlagung anzunehmen. Ich habe eine Tiefe in meinem Leben, die ich sehr schätze. Insofern ist die Hochsensibilität für mich eine große Bereicherung.“ ■

PATRICIA THIVISSEN blickt gerne in die menschliche Psyche. Die der Hochsensiblen hat es ihr besonders angetan.

von Patricia Thivissen

Wer ist hochsensibel?

Die meisten Betroffenen empfinden ihre Veranlagung nicht als seltsam, aber als etwas Besonderes. Viele erwachsene Hochsensible galten als sensibles oder schüchternes Kind – ein Prädikat, das einen negativen Beigeschmack hat. Denn hochsensible Kinder sind gehemmter als ihre Altersgenossen: Sie gehen nicht leicht auf unbekannte Menschen zu und scheuen neue Situationen. Sie reagieren abwartend und ängstlich, zum Beispiel beim Sport oder wenn sie ein neues Spielzeug ausprobieren. Bei Themen, die sie interessieren, sind sie hingegen überaus wissbegierig, stellen komplexe Fragen und können sich gut konzentrieren. Sie können sich außerdem gut alleine beschäftigen. Oft gelten hochsensible Kinder als Träumer oder Spätentwickler. Viele Hochsensible erleben einen sogenannten Gebirgsketteneffekt, wenn sie von ihrer Veranlagung erfahren – aus dem Gefühl heraus, schon immer anders gewesen zu sein, scheinen ihnen ganze Felsbrocken vom Herzen zu fallen. Mögliche Anzeichen für Hochsensibilität sind:

· Wenn man an anstrengenden Tagen ein starkes Rückzugsbedürfnis hat und sich am liebsten in sein Bett oder einen abgedunkelten Raum verkriechen möchte.

· Wenn man sich von intensiven Reizen schnell überwältigt fühlt (grelles Licht, starke Gerüche, ein kratziger Pullover, das Martinshorn eines Krankenwagens, einfahrende Züge am Bahnhof).

· Wenn man sehr empfänglich für die Stimmungen anderer Menschen ist.

· Wenn man sich in Beziehungen dem anderen stärker verbunden fühlt, als es umgekehrt der Fall ist.

· Wenn man sich von Kunst, Musik oder der Natur tief bewegt fühlt.

· Wenn man sehr viele Details und Feinheiten bemerkt, zum Beispiel beim Hören von Musik, Betrachten von Kunst oder auch beim Essen.

· Wenn man großen Wert auf seine Träume und die Trauminhalte legt.

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LESEN

Elaine N. Aron Sind sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen mgv, München 2010, € 17,90

INTERNET

Homepage der Forscherin Elaine Aron: www.hsperson.com

Seite des österreichischen Vereins „Zart besaitet“ mit Hochsensibilitätstest: www.zartbesaitet.net

Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität e.V.: www.hochsensibel.org

Kompakt

· Hochsensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das jeder Fünfte aufweist.

· Solche Menschen reagieren stärker auf innere und äußere Reize – und sind dadurch leicht überstimuliert.

· Von Vorteil ist, dass sie sich mehr Zeit nehmen, um zu beobachten, bevor sie handeln.

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