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Müssen, aber nicht können

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Müssen, aber nicht können

ES IST EIN KRANKHEITSBILD, das skurril wirkt und manch einen womöglich belustigt. Aber zum Lachen ist gar nichts an einer psychischen Störung, die Menschen in die soziale Isolation treiben kann. Bei Simone H. hat es auf einer Autobahnraststätte in Frankreich angefangen. Der Anblick der ungewohnten Toilette und die hygienischen Bedingungen wirkten so verstörend auf die damals Sechsjährige, dass sie zwar musste, aber nicht konnte. Erleichterung fand das Mädchen zwar drei Stunden später im Hotel, doch die Angst und die Hemmung, öffentliche Toiletten zu benutzen, blieben. Hygienische Verhältnisse spielten dabei keine Rolle mehr.

17 Jahre später leidet Simone H. immer noch unter der sogenannten Paruresis. Bei den Betroffenen bestimmt die Störung oft den gesamten Alltag. Ein Konzertbesuch, eine ausgedehnte Wanderung oder einfach der ganz normale Job – all dies wirft Probleme auf, wenn die Blase drückt.

Um das Krankheitsbild genauer zu erforschen und Therapieansätze zu entwickeln, startete die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität 2003 das weltweit erste Therapieprojekt für Paruretiker (bild der wissenschaft 2/2003, „ Angst vor der Toilette“). Der Psychotherapeut Philipp Hammelstein, heute leitender Psychologe der Christoph-Dornier-Klinik in Münster, hat das Projekt in den Anfangsjahren betreut. Er sieht die Paruresis als Sozialphobie: „ Die Patienten fürchten die Abwertung durch andere.“ Die Tatsache, dass in öffentlichen Toiletten andere Menschen hören oder sehen können, ob man uriniert, nehmen sie als Verletzung ihrer Privatsphäre wahr. Der Körper reagiert mit dem Zusammenziehen des Ringmuskels, das Wasserlassen wird unmöglich.

Simone H. weiß, dass sie kein Paradebeispiel für einen Paruretiker ist, denn die meisten Betroffenen sind männlich. Rund drei Prozent der männlichen Bevölkerung in Deutschland leiden an der Störung, also rund 1,1 Millionen. Warum Paruresis eine Männerdomäne ist, darüber kann der Psychotherapeut Florian Blumenthal von der Institutsambulanz in Düsseldorf nur spekulieren: „Es gehört zum Männerideal, dass man prinzipiell überall urinieren kann. Woll deshalb ist Paruresis eher eine männerspezifische Belastung.“

Für Frauen gibt es stets Kabinen, während für Männer meist Urinale vorgesehen sind. „Durch die andere Toilettensituation bei Männern wird die Bedrohung der Privatheit schneller wahrgenommen“ , erklärt Hammelstein. Die Betroffenen wissen meist nicht, dass es sich um ein psychisches Problem handelt, das sich behandeln lässt.

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Inzwischen werden an der Düsseldorfer Universität pro Jahr rund 50 Paruretiker mit Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie behandelt. Ein wichtiger Bestandteil ist das Nachstellen der Situation, die die belastenden Gefühle auslöst. „ Die Konfrontation erfolgt sehr gestaffelt“, sagt Blumenthal. Am Anfang gehen die Patienten auf eine öffentliche Toilette, von der sie wissen, dass sie dort allein sind. Später steht der Therapeut vor der Tür. Zuletzt ist er im selben Raum. Die Erfolgsaussichten dieser Therapie sind gut: Blumenthal gibt an, dass bei 80 bis 90 Prozent der Patienten danach eine deutliche Verbesserung eintritt.

Simone H. hat sich eigenständig Hilfe gesucht und vor zwei Jahren in München eine Selbsthilfegruppe gegründet. Plötzlich wurden hie und da Dinge für sie möglich, die für andere selbstverständlich sind. „Ich kann inzwischen stundenlang Zug fahren“, erzählt sie, „oder woanders übernachten oder nächtelang durchfeiern.“ Die Hoffnung, eines Tages ganz selbstverständlich öffentliche Toiletten benutzen zu können, hat sie daher nicht aufgegeben: „Das muss möglich sein. Es muss.“ Franziska Konitzer ■

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