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Falsch kalkuliert

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Falsch kalkuliert
Wer nicht rechnen kann, dem wird oft fehlende Intelligenz nachgesagt. Doch neue Studien von Hirnforschern belegen: Viele leiden unter einer Rechenschwäche.

Manche lieben sie für ihre unbestechliche Logik, andere hassen sie aus genau diesem Grund. Doch fest steht: ohne Mathematik kein Erfolg in Schule, Ausbildung oder Studium. Und selbst wer beruflich nichts mit Rechnen zu tun hat, braucht die Fertigkeit im Alltag – zum Beispiel, um eine Versicherung abzuschließen, ein Haus zu finanzieren oder Rabatte zu überschlagen. Hapert es hier, steigt das Risiko für Fehlentscheidungen, Arbeitslosigkeit und sogar psychische Probleme. Besonders schwer hat es eine dritte Gruppe, die sich die Frage, ob sie Mathe mag oder nicht, erst gar nicht stellt: Menschen mit einer Rechenstörung, die schon an den einfachsten Aufgaben scheitern. Und von denen gibt es Studien zufolge sehr viel mehr als bisher gedacht.

Lange galt, dass nur etwa ein Prozent der Grundschulkinder von „Dyskalkulie” betroffen ist – auch weil viele Lehrer und Eltern die Störung nicht erkennen, weiß Georgios Troumpoukis, Therapeut am Mathematischen Institut zur Behandlung der Rechenschwäche in München. Sie stand stets im Schatten der mit rund sechs Prozent viel häufiger diagnostizierten Legasthenie. Das zeigt sich auch bei der Zahl der Studien: Mit Legasthenie befassen sich weltweit 14 Mal so viele Studien wie mit Dyskalkulie.

Der Psychologe Stephan Vogel, der am Numerical Cognition Laboratory der University of Western Ontario in Kanada untersucht, wie Zahlen im Gehirn abgebildet und verarbeitet werden, erklärt das Schattendasein der Dyskalkulie so: „In unserer Gesellschaft werden Rechenschwierigkeiten eher als normal wahrgenommen als Schwächen beim Lesen und bei der Rechtschreibung. Auf einer Party finden Sie ziemlich sicher jemanden, der über seine Probleme mit Mathe redet, aber kaum jemanden, der offen Probleme beim Lesen und Schreiben zugibt. Folglich gibt es deutlich mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen für die Legasthenieforschung.”

Betroffene in jeder Schulklasse

Doch seit einigen Jahren wächst das Interesse an der Dyskalkulie, wie Stephan Vogel beobachtet hat. Gemeinsam mit Laborleiter Daniel Ansari nahm er die Studien der vergangenen Jahre unter die Lupe. Fazit: „Auch die Dyskalkulie betrifft rund sechs Prozent der Bevölkerung.” In jeder Schulklasse sitzen demnach ein bis zwei Kinder mit einem Rechenproblem.

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Schon Babys und manche Tierarten wie Schimpansen oder Ratten erfassen Mengen intuitiv. Das erfüllt einen evolutionären Sinn, denn wer versteht, wo es mehr Futter und weniger Feinde gibt, verbessert seine Überlebenschancen. Zu diesen basisnumerischen Fähigkeiten kommt im Laufe der Jahre der Erwerb von Symbolen für Zahlen, die Fähigkeit, rechnerische Denkoperationen wie Addition und Subtraktion auszuführen und ein zahlenräumliches Verständnis – der sogenannte mentale Zahlenstrahl. Die dafür nötigen Hirnfunktionen sind das Ergebnis eines neuroplastischen Reifungsprozesses. Nicht ein isoliertes Zentrum, sondern ein komplexes neuronales Netz ist nötig, um Textaufgaben lösen oder einen Sinus berechnen zu können. Die Sprachzentren der linken Hirnhälfte zum Beispiel verarbeiten Zahlwörter wie „viele”, „die meisten” oder „manche”. Auf die Zahlen selbst ist vor allem der in beiden Hirnhälften liegende parietale Kortex spezialisiert, genauer der Intraparietale Sulcus (IPS) (siehe Abbildung auf Seite 72 oben).

Untersuchungen mit dem funktionellen Magnetresonanztomografen (fMRT) zeigen dort Besonderheiten bei Dyskalkulikern. Zum einen ergab die Volumenbestimmung der Hirnsubstanz, dass die Kapazität ihres parietalen Kortex geringer ist. „Zum anderen zeigt der IPS eine atypische Aktivierung bei bestimmten Aufgaben, etwa der Verarbeitung von Zahlenmengen. Gerade die ist aber eine wichtige Grundlage für arithmetische Operationen”, erklärt Vogel.

Schon Plus und Minus ist schwierig

Beim Vergleichen von Mengen, Zahlen und Symbolen oder bei Aufgaben, die exakte Rechenlösungen verlangen, wird der IPS schwächer und auch zeitlich kürzer aktiviert als bei Kindern mit normaler Rechenfähigkeit. Es gibt also sowohl strukturelle als auch funktionelle Unterschiede im Gehirn. Mit unangenehmen Folgen für die betroffenen Kinder: Sie haben von Beginn an Schwierigkeiten im Matheunterricht und können nicht einmal plus und minus rechnen. Misserfolge sind damit unausweichlich.

Viele leiden außerdem unter Störungen im Arbeitsgedächtnis, der Aufmerksamkeit und der räumlich-visuellen Wahrnehmung. Gleichzeitig quälen sich etwa zwei Drittel mit Legasthenie herum. Häufige Folgen: ein negatives Selbstbild, Schul- und Versagensängste, Depressionen und später Nachteile am Arbeitsmarkt. Bis zu 50 Prozent der Kinder mit Lernstörungen sind psychisch auffällig, berichtet das Deutsche Ärzteblatt.

Wie es zu diesen Unterschieden bei der Hirnaktivität kommt, ist noch un- klar. Manche Forscher bringen eine zu frühe Geburt, ein niedriges Geburtsgewicht oder Stoffwechselerkrankungen mit Dyskalkulie in Zusammenhang. Auch eine genetische Disposition könnte eine Rolle spielen, weil die Störung in manchen Familien gehäuft auftritt.

Leider bessert sich Dyskalkulie nicht mit der Zeit – und Nachhilfe allein reicht nicht. Ohne gezielte Therapie bleibt die Störung bestehen. Doch was hilft aus Sicht der Wissenschaftler? „ Das ist schwer zu beantworten, weil die meisten deutschsprachigen Förderprogramme nicht auf ihre Wirksamkeit überprüft wurden. Trotz intensiver Recherche haben wir nur acht Studien gefunden, die unseren methodischen Anforderungen genügen”, berichtet Elena Ise. Als die Psychologin von der Universität München die Therapiestudien sichtete, stellte sie fest, dass es für den kurzfristigen Lernerfolg egal ist, ob die Behandlung den Lehrplan berücksichtigt oder nicht. Tatsächlich hilft beides: die intensive Wiederholung des Schulstoffs und das Training mathemati- scher Grundkompetenzen, etwa der Zählfertigkeit.

Am besten Individuell Fördern

Die Unterstützung sollte allerdings auf den Einzelnen zugeschnitten sein: „Wenn das Kind nicht über das Basiswissen verfügt, auf dem der Schulstoff aufbaut, sollte vorrangig gefördert werden, dieses zu erwerben”, sagt Ise. Zudem zeigte die Metastudie, dass eine Förderung einzelner Kinder effektiver ist als eine in Kleingruppen, in der Klasse oder am PC. Und die Wirksamkeit steigt, je länger und häufiger die Kinder unterstützt werden. Die Therapie durch einen Dyskalkulie-Spezialisten ist auf jeden Fall hilfreicher als durch einen Lehrer oder Studenten. Ebenso ist das Training von Rechenstrategien effektiver als die bloße Vermittlung von Unterrichtsinhalten.

Ein Therapieablauf am Mathematischen Institut zur Behandlung der Rechenschwäche in München sieht zum Beispiel so aus: Plastikwürfel stecken auf einem Brett neben den Ziffern 1 bis 10. Der Therapeut fordert ein Kind auf, die Menge Vier zu zeigen. Es entscheidet sich nur für den Würfel, der bei der 4 steckt. Nimmt der Therapeut daraufhin alle anderen Würfel weg, merkt das Kind, dass nur einer übrig geblieben ist – statt vier. So kommt es schließlich auf die richtige Lösung und damit zu einer korrekten Mengenvorstellung. Der Therapeut Georgios Troumpoukis erklärt: „ Eine Therapie dauert bis zu zwei Jahre. Den Großteil der Kosten von 230 Euro pro Monat trägt das Jugendamt, sofern die Diagnose ‚ Teilleistungsstörung‘ vorliegt.”

Bei der Frage nach dem langfristigen Erfolg muss die Psychologin Elena Ise passen: „Es gibt keinen Langfristvergleich von Methoden. Jedoch zeigen erste Studien, dass beim Training mathematischer Basiskompetenzen der Lernerfolg über längere Zeit anhält.” Wichtig sei vor allem die exakte Diagnostik, um das Ausmaß der Dyskalkulie zu erkennen.

Könnte es denn bald Diagnosen mithilfe von Hirnscans geben? Stephan Vogel ist hier skeptisch: „Unser Wissen über die neuronalen Mechanismen beruht auf Gruppenvergleichen, und ermöglicht es daher nicht, Einzelpersonen zu diagnostizieren.” Allerdings hält er es für wahrscheinlich, dass das fMRT in Zukunft die Diagnostik ergänzen könnte.

Ist Der eRFOLG messBar?

Bleibt die Frage, ob Hirnscans zu verbesserten Therapien führen könnten. Immerhin ergab eine Studie der Universität Zürich, dass ein computerbasiertes Trainingsprogramm nicht nur die Rechenfähigkeit verbessert, sondern auch die neuronalen Aktivierungsmuster normalisiert. Doch Vogel mahnt zur Vorsicht, denn solche Daten würden oft zu voreiligen Schlüssen verleiten: „ Die neurowissenschaftliche Forschung zur Dyskalkulie steckt noch in den Kinderschuhen. Konkrete Schlüsse für therapeutische Maßnahmen lassen sich bislang nicht ziehen.”

Vorerst werden Psychologen weiterhin ihre bewährten Methoden anwenden. Doch bevor sie Kinder aus der arithmetischen Misere befreien können, sollten sich Eltern und Lehrern klar machen, dass es bei krassen Matheproblemen nicht an der Intelligenz mangeln muss. Möglicherweise ist es eine Rechenschwäche, die dem Kind das Schulleben schwer macht. ■

Eva Tenzer stand als Schülerin mit der Mathematik auf Kriegsfuß. Inzwischen hat sich das Verhältnis entspannt.

von Eva Tenzer

Kompakt

· Sechs Prozent der Grundschulkinder haben eine Rechenstörung.

· Ohne adäquate Behandlung kann das Rechendefizit zu psychischen Erkrankungen führen.

· Neurologen wissen durch Kernspinanalysen, was bei Dyskalkulikern im Gehirn vorgeht.

Mehr zum Thema

LESEN

Was bei einer Rechenstörung im Gehirn passiert: Stephan E. Vogel, Daniel Ansari Neurokognitive Grundlagen der typischen und atypischen Zahlenverarbeitung In: Lernen und Lernstörungen, 2012 Band 1 (2), S. 135–149

Wie sich Dyskalkulie behandeln lässt: Liane Kaufmann, Michael von Aster Diagnostik und Intervention bei Rechenstörung In: Deutsches Ärzteblatt International 2012, Band 109 (45), S. 767–7 78

Welche Therapien wirklich helfen: Elena Ise et al. Effektive Förderung rechenschwacher Kinder Eine Metaanalyse In: Kindheit und Entwicklung 2012 Band 21 (3), S. 181–192

INTERNET

Das Mathematische Institut zur Behandlung der Rechenschwäche bietet Beratung und Therapie an: www.rechenschwaeche.de

„Mehr Freude am Rechnen” – die Stiftung Rechnen fördert Mathematik in Schule und Forschung: www.stiftungrechnen.de

Für alle, die Hilfe bei Mathe brauchen: www.mathematik.de

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