Ein warmer Junitag, die Sonne strahlt, es ist sehr angenehm im Schatten am See. Da passiert es – plötzlich ist dieses Lied im Kopf: „Last Christmas I gave you my heart”. Immer und immer wieder spielt sich der Refrain ab. Und er gibt auch in den nächsten Tagen keine Ruhe.
Bis vor ein paar Jahren war dieses Phänomen zwar bekannt, aber niemand hatte es gründlich untersucht. Doch mittlerweile ist der Ohrwurm zum empirischen Forschungsobjekt avanciert. Als der Musikwissenschaftler Lassi Liikkanen vom Helsinki Institute for Information Technology 2011 mehr als 12 000 Finnen im Internet befragte, fand er heraus: 91,7 Prozent von ihnen haben mindestens einmal pro Woche einen Ohrwurm. In Großbritannien werden laut vergleichbaren Untersuchungen über 85 Prozent der Menschen wöchentlich von einem Ohrwurm befallen. Jan Hemming, Musikwissenschaftler an der Universität Kassel, geht davon aus, dass man diese hohen Zahlen auf Deutschland übertragen kann.
Lästige ablenkung
Er selbst untersuchte in den letzten Jahren, bei wem und wann sich die drei bis vier Sekunden langen Musikfetzen im Kopf wiederholen und was die Auslöser sind. Ergebnis: Betroffen sind vor allem Menschen, die selbst viel Musik machen oder hören. Und: „Meistens entstehen Ohrwürmer während ‚Leerlaufphasen‘, beispielsweise beim Putzen, Joggen oder wenn man auf den Bus wartet.” Wer konzentriert arbeitet oder eine Prüfung schreibt, wird kaum von einem Ohrwurm attackiert.
Da die „Involuntary Musical Imageries” (englisch für „ Unwillkürliche musikalische Vorstellungen”), wie sie in Fachkreisen auch heißen, spontan auftreten und nicht gezielt erzeugt werden können, lässt sich mithilfe von Gehirnscans schwer feststellen, wo die Ohrwürmer sitzen. Hemming und andere Wissenschaftler vermuten, dass die ständige Wiederholung der Musikstücke im auditiven Cortex stattfindet, dem Hörzentrum in der Großhirnrinde – genauer: im sekundären und tertiären auditiven Cortex. „Denn dort laufen komplexe Verarbeitungsprozesse ab, etwa das Einordnen und Abgleichen von Tönen”, erklärt der Musikwissenschaftler.
Oft reicht ein einziges Wort
Eine andere Frage, mit der sich die Forscher beschäftigen: Was macht ein Lied eigentlich ohrwurmtauglich? Das ist das Fachgebiet von Daniel Müllensiefen, Musikpsychologe am Goldsmiths College der University of London. Er fand heraus: Lieder mit Gesang, vor allem in der Muttersprache, haben prinzipiell ein höheres Ohrwurm-Potenzial als Instrumentalstücke. Günstig sind außerdem eine kurze Tondauer und kleine Intervallsprünge – sie machen Lieder eingängig. Müllensiefen und seine Kollegen identifizierten zudem zwei Hauptursachen der musikalischen Plagegeister: Assoziationen und das kürzliche oder wiederholte Hören eines Lieds.
Oft reicht ein Wort, eine Tonfolge, eine Situation oder auch eine Emotion, um ein Lied aus dem Gedächtnis abzuspielen. Bei der Umfrage von Müllensiefen berichtete eine Frau, dass ihr ein bestimmter Song immer dann einfällt, wenn sie Stress hat – seit sie ihn einmal beim Lernen für eine wichtige Prüfung gehört hat. Das Lied kam ihr noch Jahre später bei ihren Hochzeitsvorbereitungen und auch bei der Geburt ihres Kindes in den Kopf. Müllensiefen erläutert: „Unser Langzeitgedächtnis für Musik ist sehr gut. Das erklärt die jahrelangen Abstände, die manchmal zwischen dem Hören und dem Ohrwurm liegen können.”
Der Kasseler Musikwissenschaftler Jan Hemming hält die emotionale Bindung zu einem Song für sehr wichtig: „In der Regel findet man ein Ohrwurm-Lied sehr gut oder sehr schlecht. Eine Melodie, die man völlig neutral wahrnimmt, wird meist nicht abgespeichert.” Die negative Bindung hält etwa nervige Schlager oder „Mallorca-Hits” im Gedächtnis fest. Ob Ohrwürmer auch einen Zweck erfüllen, konnte bislang kein Wissenschaftler klären.
Der Quälgeist hat übrigens Verwandte: musikalische Halluzinationen. Die Betroffenen haben beispielsweise den Eindruck, dass draußen eine Band spielt, die es aber gar nicht gibt. Die Ursache für solche Halluzinationen kann etwa ein Schlaganfall sein, bei dem der auditive Cortex Schaden genommen hat. „Beim Ohrwurm weiß der Wahrnehmende, dass die Musik nur in seinem Kopf spielt. Die Halluzination dagegen lässt sich nicht von der Wirklichkeit unterscheiden”, erklärt Müllensiefen.
Angenehmes Gedudel im Kopf
Eine spezielle Beziehung zu Ohrwürmern haben Menschen mit Schizophrenie. Sie erleben das Phänomen öfter, länger und intensiver. Müllensiefens Kollege Mike Wammes stellte eine Untersuchung dazu im vergangenen Jahr auf einer Konferenz in Thessaloniki vor. Seine Erkenntnis: Menschen mit Schizophrenie versuchen nicht, ihre Ohrwürmer loszuwerden, da die ständige Melodie im Kopf ihre Stimmung verbessert und auditive Halluzinationen verhindert. Auch Menschen mit einer Zwangsstörung haben häufiger Ohrwürmer. Allerdings ist die Situation bei ihnen anders, wie Mike Wammes berichtet: „Die Musikfetzen kommen immer wieder, wie ungewollte Gedanken, und setzen sich fest.”
Ein wirksames Mittel gegen Ohrwürmer gibt es nicht. Um das Weihnachtslied im Sommer aus dem Kopf zu bekommen, kann man zwar das Radio anstellen und laut mitsingen. Doch wer weiß: Nachher dudelt „We are the Champions” in einer Endlosschleife im Ohr. ■
von Gesa Seidel