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Die Liebe zu den Prognosen

Astronomie|Physik Technik|Digitales

Die Liebe zu den Prognosen
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Franz Miller war ab 1988 Wissenschaftsredakteur in der Zentrale der Fraunhofer-Gesellschaft in München. 1996 übernahm er dort die Leitung der Presseabteilung und leitete von 2005 bis 2013 zusätzlich den Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Franz Miller (*1951) hat zahlreiche Artikel über Wissenschaft, Technik und Innovation in verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern veröffentlicht. Zweimal – 2008 und 2013 – wurde er zum "Forschungssprecher des Jahres" gewählt. (Foto: A. Griesch für bdw)
In Janoschs Kinderbuchklassiker „Oh, wie schön ist Panama“ brechen der kleine Tiger und der kleine Bär auf, um das Land Panama zu suchen, wo alles schöner und besser sein soll. Ein Stück einer Holzkiste mit der Aufschrift Panama, die der Bär aus dem Fluss fischt, wird zum unwiderstehlichen Lockruf.

Auch im ganz normalen Leben können Prognosen Veränderungen bewirken und herauslocken aus gewohnten Bahnen. Journalisten lieben Prognosen und können nicht genug davon kriegen, sich die Welt in 20, 50 oder 100 Jahren auszumalen. Forscher hingegen hassen die Spekulationen und können nicht oft genug darauf hinweisen, dass die Zukunft prinzipiell nicht vorhersehbar ist.

Die meisten Menschen wollen wissen, was auf sie zukommt, wie das Wetter wird, wie sich die Wirtschaft entwickelt, ob die Mieten steigen, wann Überschwemmungen drohen, welche Krankheiten sich ausbreiten, wer die Wahl gewinnt. Es ist ein ganz normaler Wunsch, sich so gut wie möglich vorbereiten zu können auf das Kommende. Täglich sind wir gezwungen, Entscheidungen zu fällen, Abschätzungen vorzunehmen und Vorhersagen zu treffen. Und in der Tat ist es ja nur vernünftig, den Unsicherheiten der Zukunft durch möglichst viel Wissen zu begegnen. Doch was kann man überhaupt wissen über das Morgen?

Was ist schon sicher?

Es gibt absehbare Entwicklungen und langfristige Trends. Aber sind sie wirklich sicher? Es ist nicht einmal sicher, dass die Sonne wieder aufgeht, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird es so sein. Also bewegen wir uns im Bereich des Wahrscheinlichen, der Statistik, der Trends und der Annahmen. Weil wir die Zukunft nicht kennen, sind alle unsere Entscheidungen letztlich Wetten oder Einschätzungen. Wir können – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – das Wetter für ein paar Tage vorhersagen, das Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr und die demografische Entwicklung in den kommenden Jahrzehnten voraussehen, nicht aber einen konkreten Unfall oder die Lottozahlen.

Das ärgert Menschen, die ihr persönliches Schicksal kennen wollen. Sie glauben, den Schleier der Zukunft lüften zu können, und lassen sich von Hellsehern oder Wahrsagern aus der Hand, dem Kaffeesatz, den Karten oder der Kristallkugel lesen. Wissenschaftler versuchen dagegen, die Zukunft zu berechnen. Der Bedarf nach Kalkulationen in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik wächst ebenso schnell wie die Unübersichtlichkeit. Wenn Politiker gestalten wollen, müssen sie die Auswirkungen ihrer Entscheidungen voraussehen können. Wenn Unternehmer erfolgreich sein wollen, müssen sie etwas über Zukunftsmärkte wissen. Forscher liefern mit ihren Prognosen Handlungsempfehlungen. Doch wissenschaftliches Wissen hat immer den Status des Vorläufigen. Vor allem aber beruht es auf Modellen und Annahmen und auf einer – oft riskanten – Vereinfachung der Welt. Komplexe Zusammenhänge lassen sich nicht genau beschreiben.

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Systemfehler in der Zukunftsforschung

Auch ausgeklügelte Methoden und Modelle können nicht verhindern, dass Prognosen danebenliegen. Ein Grund ist offenkundig: Bekannte Entwicklungen der Gegenwart werden in die Zukunft verlängert. Daher werden immer die Entwicklungen prognostiziert, die bereits angelaufen sind. Doch weil entscheidende Daten oft zu spät vorliegen, gilt die Regel: Wer zuletzt mit seiner Prognose herauskommt, hat meist die beste Trefferquote. Hinzu kommt ein weiteres Phänomen: Immer wieder passiert etwas, was niemand auf der Rechnung hatte. Der ehemalige libanesische Börsenhändler Nassim Nicholas Taleb hat in seinem Bestseller „Der schwarze Schwan“ schon vor einigen Jahren vorgeführt, welche große Bedeutung unerwartete Ereignisse haben. Deshalb sind Prognosen gerade dann so schwierig, wenn sie am nötigsten sind: in unruhigen Zeiten.

So haben eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen mit ihren Prognosen versagt – und erhebliche Folgekosten für die Gesellschaft verursacht: Die Kernkraftwerksblöcke in Fukushima waren für Erdbeben bis zur Stärke 8,6 ausgelegt, weil Seismologen höhere Werte als höchst unwahrscheinlich eingeschätzt hatten. Das Beben im März 2011 hatte aber eine Magnitude von 9,1. Noch katastrophalere Folgen hatte der naive Glaube an die Modelle der Finanzbranche. Er stürzte die Welt ab 2007 in die größte Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Seither ähnelt die Wirtschaftspolitik ­einem Blindflug.

In der Technologie haben es einige besonders eklatante Irrtümer und Fehlprognosen zu Berühmtheit gebracht. So meinte der damalige IBM-Chef Thomas J. Watson 1943, dass es einen Weltmarkt für nur fünf Computer gebe. Und Larry Ellison, Gründer des Software-Weltkonzerns Oracle hielt Cloud-Computing noch 2008 für „eine verrückte Modeerscheinung“. Aber besonders kostspielig sind Irrtümer bei Börsenprognosen. Und ­viele Börsengurus, die richtig lagen, hatten nur einen Glückstreffer. Selbst gute Prognostiker weisen oft Trefferquoten auf, die kaum besser sind als ein Zufallsgenerator. Böse Zungen sagen: Prognosen sind wie Handgranaten – je weiter man sie wirft, desto weniger besteht die Gefahr, dass man selbst getroffen wird.

Modelle sind Vereinfachungen der Welt

Das ist eine Paradoxie der Moderne: Wir lechzen nach Prognosen, sind aber ziemlich schlecht darin. Woran liegt das? Weil hinter den Prognosen Menschen mit ihren Denkfehlern und Absichten stecken. Wir sehen nur, was wir sehen möchten, und nicht die Welt, wie sie wirklich ist. Wir ignorieren Risiken, die sich schwer messen lassen. Wir hassen Unsicherheit und versuchen sie durch fragwürdige Gewissheiten und umfassende Versicherungen zu bannen. Wir nehmen an, dass das Morgen genauso ausschaut wie das Heute. Wir wollen nicht wahrhaben, dass unsere Modelle nur Vereinfachungen der Welt darstellen.

Der israelisch-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann beschreibt in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“, in welch erschreckender Weise unser Denken von Illusionen und Verzerrungen geprägt ist: „Wir überschätzen tendenziell unser Wissen über die Welt, und wir unterschätzen die Rolle, die der Zufall bei Ereignissen spielt.“ Deshalb tragen alle Versuche, die Zukunft berechenbar zu machen, den Kern des Scheiterns in sich.

Am Ende müssten wir zugeben, dass wir weit weniger über die Welt wissen, als wir glauben. Längst hat sich die Idee von Planbarkeit als illusionärer Traum einer Beherrschung der Welt erwiesen. Hier zeigt auch die moderne Vorstellung, dass der Mensch der Herr seines Schicksals sei, ihre Grenzen. Noch nie wussten wir so viel über die Zukunft und können doch so wenig vorhersehen. Wir gewinnen zwar immer mehr Informationen, doch wie soll es gelingen, die richtigen Signale herauszufiltern, wenn wir nicht sicher sein können, was morgen relevant sein wird.

Zukünfte statt Zukunft

„Die Lösung setzt die Veränderung unserer Einstellung voraus. Wir überschätzen unsere Prognosefähigkeit“, fasst der US-Statistiker Nate Silver in seinem Buch „Die Berechnung der Zukunft“ zusammen und fügt an: „Um das Signal vom Rauschen unterscheiden zu können, sind oft Wissenschaft und Selbsterkenntnis ­nötig: die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die wir nicht vorhersagen können, der Mut, Dinge vorherzusagen, die sich vorhersagen lassen, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Bleibt also nur, sich auf die Zerbrechlichkeit aller Prognosen einzustellen.

Wer Zukunft gestalten will, muss sich ein Bild von ihr machen. Klüger ist es, sich gleich mehrere Bilder auszumalen. So sprechen moderne Forscher lieber von „Zukünften“ und entwickeln Szenarien, die den Katalog der künftigen Möglichkeiten ausbreiten. Letztlich zählt auch hier nicht das, was ­vorausgesagt wird, sondern das, was Entscheidungsträger daraus machen. Nur die Zukunft verleiht unseren Handlungen Sinn, rechtfertigt oder widerlegt sie. Motivation ist der Impuls, eine gewünschte Zukunft herbeizuführen. Das haben moderne Prognostiker mit den biblischen Propheten gemein. Und so ist oft die Vorhersage die Beste, die nicht in Erfüllung geht, weil Maßnahmen getroffen wurden, sie zu verhindern.

Genau wie Umweltprognosen die negativen Trends überzeichnen, so neigen Konjunkturprognosen zum Positiven. Börsenentwicklungen sind stark von Psychologie abhängig. Wegen dieser Kraft der sich selbst erfüllenden Prophezeiung lieben Menschen die Prognosen. Die Denkfehler wären leichter hinzunehmen, wenn sie uns nicht verleiten würden, größere Risiken einzugehen. Doch das Wunschdenken übt auf die Menschen eine unwiderstehliche Kraft aus. Und die Menschen lassen sich nicht von ihren Träumen abbringen – wie der kleine Tiger und der kleine Bär in „Oh, wie schön ist Panama“. Nachdem sie eine lange Zeit im Kreis gegangen sind, kommen sie wieder zu ­ihrem alten Häuschen am Fluss. Da es aber inzwischen ein bisschen verwittert und mit Sträuchern zugewachsen ist und davor ein Holzstück mit der Aufschrift „Panama“ liegt, sind sie glücklich, im Land ihrer Träume angekommen zu sein.

Das Essay ist ursprünglich in bild der wissenschaft 10/15 erschienen.

© wissenschaft.de – Franz Miller
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