Bereits 1910 bezeichnete der US-amerikanische Biologe William Morton Wheeler Ameisenstaaten erstmals mit dem Begriff „Superorganismus“. Damit war gemeint, dass es sich bei einem Ameisenvolk gleichsam wie um ein Wesen handelt, dessen „Körper“ aus vielen Individuen besteht: Sie bilden eine reaktionsfähige Einheit, deren Fähigkeiten diejenigen einzelner Ameisen bei weitem übertreffen. Der Gemeinschaft wird in diesem Zusammenhang auch eine sogenannte kollektive Intelligenz zugesprochen, die sinnvolle Verhaltensweisen hervorbringt. Der Erforschung dieses spannenden Themas widmet sich bereits seit einiger Zeit ein Biologenteam an der Universität Bristol. Bei ihrer aktuellen Studie untersuchten sie, wie Ameisenvölker reagieren, wenn man ihnen Mitglieder an unterschiedlichen Stellen ihres Territoriums raubt. Dies simulierte die Bedrohung durch Räuber von außen beziehungsweise im Inneren des Nests.
Räuberische Experimente
Bei den Versuchsvölkern der Forscher handelte es sich um Ameisen der Art Temnothorax albipennis, die in künstlichen Nestern aus Plexiglas gehalten wurden. In einem Versuchsansatz entfernten die Forscher bei einigen Versuchsvölkern Ameisen, die sich auf Erkundungsgang in den Außenbereichen des Kolonie-Reviers befanden. Bei der zweiten Variante raubten sie den Völkern hingegen Mitglieder, die sich im Zentrum des Nestes befanden. Bei beiden Versuchsansätzen dokumentierten die Forscher akribisch, wie sich das jeweilige Volk anschließend verhielt.
Es zeigte sich: Die Völker, denen die Biologen die Kundschafter klauten, reagierten mit dem Kommando „Rückzug“: Die Außen-Bataillone kehrten ins Nest zurück. Richteten sich die Attacken der Forscher hingegen gegen Ameisen, die sich im Zentrum des Nestes aufhielten, zeigten die Völker eine ganz andere Reaktion: Sie packten zusammen und machten sich auf die Suche nach einer neuen Behausung. Den Forschern zufolge reagieren die Völker in beiden Fällen sinnvoll und wie ein Gesamtorganismus. Bei dem ersten Versuchsansatz ist es eine Reaktion, wie wenn man sich mit der Hand verbrennt – sie wird zurückgezogen. Stimmt hingegen in der Wohnung irgendetwas nicht, das sich nicht beheben lässt, ist umziehen angesagt.
Parallelen zu einem Nervensystem
“Ameisen reagieren sehr unterschiedlich und koordiniert, je nachdem wo räuberische Angriffe stattfinden“, resümiert Thomas O’Shea-Wheller von der Universität Bristol das Ergebnis. So wie wir Zellschäden als Schmerz an bestimmten Stellen wahrnehmen, reagieren Ameisenkolonien auf den Verlust von Individuen über Gruppenbewusstsein und reagieren dann“, erklärt der Biologe. “Dies bildet somit eine spannende Parallele zum Nervensystem von Einzelorganismen.“. Grundlage dieser Fähigkeit sind ausgefeilte Kommunikationssysteme zwischen den Individuen, die maßgeblich auf chemischen Substanzen beruhen. Wie genau die Insekten die entsprechenden Informationen untereinander kommunizieren, bleibt weiterhin eine spannende Frage der Biologie.