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„Du bist anthropozän!“

Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie

„Du bist anthropozän!“
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Teil der Ausstellung "Anthropozän" im Deutschen Museum in München (Foto: Axel Griesch)
In der Wissenschaft wird derzeit heiß diskutiert, ob das „Anthropozän“ als geologische Epoche das Holozän ablösen soll. Im Deutschen Museum in München läuft eine Ausstellung dazu. bild der wissenschaft hat mit der Kuratorin Nina Möllers über Sinn und Zweck des „Erdzeitalters des Menschen“ gesprochen.

bild der wissenschaft: Wenn man heute eine Umfrage machen würde – was meinen Sie, Frau Möllers, wie viele Leute könnten mit dem Begriff „Anthropozän“ etwas anfangen?

Nina Möllers: In jedem Fall wesentlich mehr als noch vor vier oder fünf Jahren, denn kaum ein Begriff hat in so kurzer Zeit eine solche Konjunktur erlebt. Aber natürlich haben wir uns diese Frage auch gestellt, als wir mit den Vorbereitungen zur Ausstellung begannen und waren nicht überrascht, als eine Umfrage bei uns im Haus zeigte, dass nur wenige den Begriff kannten. Schließlich beschäftigen sich auch die Wissenschaften erst seit etwas über zehn Jahren intensiv mit dem Anthropozän. Letztlich geht es aber gar nicht darum, ein Label bekannt zu machen, sondern um die Phänomene, die dahinterstecken. Themen wie Ressourcenverbrauch, Klimawandel, Globalisierung oder Artensterben beschäftigen uns schon länger, aber bislang wurden sie häufig isoliert voneinander betrachtet. Der Begriff und das Konzept Anthropozän helfen uns, den Blick auf die Zusammenhänge und systemischen Wechselwirkungen zu lenken.

Der Geologe Reinhold Leinfelder spricht sich in seinem Essay „So gelingt die Menschenzeit“ in der Dezemberausgabe von „bild der wissenschaft“ stark dafür aus, die breite Öffentlichkeit in die Diskussion um die Zukunft einzubeziehen. Inwiefern trägt die Ausstellung „Willkommen im Anthropozän“ dazu bei?

Als meistbesuchtes Museum Deutschlands haben wir das Glück, ein sehr breites Publikum zu haben. Egal, ob sie sich für biologische Fragestellungen oder für kultur- und sozialgeschichtliche Themen interessieren, das Ausstellungskonzept ermöglicht unterschiedliche Zugänge zu den Phänomenen des Anthropozäns. Was wir nur bedingt liefern, sind Antworten, denn die haben wir für die sehr aktuellen Themen des Anthropozäns natürlich auch noch nicht. Die Ausstellung bietet vielmehr eine Plattform mit fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen, von der aus sich jeder selbst eine Meinung bilden kann. Konkret beteiligen können sich die Besucher im letzten Teil der Ausstellung, wo sie ihre Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Ideen aufschreiben und als Papierblume in ein großes Blumenfeld pflanzen können. Wie rege die Diskussion ist, sieht man an den vielen Büchern, die wir inzwischen aus den Papierblumen gebunden haben und in der Ausstellung zur Verfügung stellen.

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Mit welcher Botschaft sollen die Besucher nach Hause gehen?

Wir möchten vermitteln, dass wir heute schon in einem von Menschen geprägten Zeitalter leben. Die Botschaft ist: Das Anthropozän ist bereits da! Ob es die Geologen tatsächlich als das nächste Erdzeitalter ausrufen werden, steht nicht im Vordergrund. Wichtiger ist, dass die Besucher sich als Akteure verstehen. Deshalb lautet unsere zweite Botschaft: Du bist anthropozän! Denn tatsächlich ist es so, dass wir alle – ob wir wollen oder nicht – das Anthropozän mitgestalten. Selbst wenn man sich entscheidet, nichts zu tun, beeinflusst man dadurch die Zukunft der Erde. Wir zeichnen aber kein Untergangsszenario, sondern zeigen neben den negativen Effekten unseres Tuns auch viele Handlungsansätze für eine große Transformation hin zu einem nachhaltigen Umgang mit unserem Heimatplaneten. Das Anthropozän ist also Herausforderung und Chance zugleich.

Kritiker der Anthropozän-Idee fragen, was so besonders daran sein soll, dass der Mensch plötzlich ein geologischer Faktor ist. Schließlich beeinflusst er das Treiben auf der Erde seit jeher.

Der springende Punkt ist, dass der Mensch die Erde erst seit einiger Zeit langfristig und unumkehrbar beeinflusst. Punktuell hat er das natürlich schon früher getan, etwa durch das Ausrotten von Tieren im Pleistozän. Neu ist, dass wir die Erde zum ersten Mal wirklich global und in beschleunigter Weise verändern. Ein Beispiel: Wir greifen schon lange durch Züchtung von Getreide in die biologische Evolution ein. Heute jedoch sind die Auswirkungen unserer Manipulationen aufgrund neuer technischer Möglichkeiten viel tiefgreifender. Gentechnik, synthetische Biologie oder das beschleunigte Artensterben werden den Genpool von Pflanzen und Tieren dramatisch verändern. Chemische Kreisläufe haben wir – etwa durch den massenweisen Einsatz von künstlichem Dünger – besonders im 20. Jahrhundert viel schneller verändert als je zuvor. In der Wissenschaft hat sich für diese Phase seit den 1950er-Jahren der Begriff der „Großen Beschleunigung“ etabliert. Globale Phänomene wie Ozeanversauerung oder der steigende CO 2-Anteil in der Atmosphäre haben seitdem exponentiell zugenommen, die Artenvielfalt, der Regenwald oder der Fischbestand in den Ozeanen ist dramatisch geschrumpft. Diese Entwicklungen hängen auch mit der wachsenden Weltbevölkerung zusammen, die immer mehr Energie und Rohstoffe verbraucht und immer häufiger und massiver in natürliche Kreisläufe eingreift.

Der Mensch als Klimasünder und Umweltverschmutzer – in der Diskussion über das Anthropozän landet man schnell bei moralischen und politischen Fragen. Wie positioniert sich das Deutsche Museum als weltweit größtes naturwissenschaftlich-technisches Museum dazu?

Worte wie Klimasünder finden Sie in unserer Ausstellung nicht. Es geht uns nicht darum, mit erhobenem Zeigefinger das Tun der Menschen insgesamt anzuprangern, aber wir reden auch nichts schön. Politische, ökonomische und moralische Positionen stellen dabei einen wichtigen Teil dar. Was Menschen auf der einen Seite des Globus als wichtig und richtig erachten, mag woanders ganz anders wahrgenommen werden. Insofern kann das Anthropozän niemals nur naturwissenschaftlich oder technisch gedacht werden. Insgesamt stellt das Deutsche Museum Technik heute ganz anders aus als in seiner Gründungsphase vor über 100 Jahren. Damals ging es um Fortschritt durch Technik. Heute beleuchten wir die verschiedenen Technologien in ihrer Ambivalenz. Erfindungen haben oft negative Nebeneffekte, aber Technik ist nicht aus sich heraus schlecht, sondern höchstens die Art und Weise, wie wir Menschen sie anwenden. Das sieht man auch in der Ausstellung: Der Euphorie um grenzenlos verfügbare Kernenergie der 1950er-Jahre stehen die Atombombentests gegenüber, deren langlebiges Überbleibsel die Radionuklide sind, die sich nach Meinung vieler Geologen als Marker für den Beginn des Anthropozäns eignen.

Die Ausstellung läuft nun seit einem Jahr. Welche Bilanz ziehen Sie?

Wir sind begeistert vom großen Besucherzuspruch. Es ist die erste große Ausstellung zu diesem Thema weltweit; das ist immer mit einem Risiko verbunden. Die Ausstellung ist aber schon jetzt eine der am besten besuchten Sonderausstellungen des Deutschen Museums. Sie wird deshalb auch bis September 2016 verlängert. Besonders positiv überrascht und froh bin ich, dass trotz der Komplexität des Themas viele Familien den Weg in die Ausstellung finden.

Noch eine persönliche Frage: Sie sind dieses Jahr Mutter geworden – was Ihren Blick auf die Welt vermutlich verändert hat. Mit welchen Gefühlen schauen Sie in die Zukunft?

Ich hoffe, dass sich mein Blick nicht allzu sehr verändert hat, auch wenn ich natürlich vieles mit einer anderen Dringlichkeit wahrnehme. Meine Gefühle sind gemischt: Einerseits gibt es viele Probleme, die die nachfolgenden Generationen bewältigen müssen. Andererseits gibt es ermutigende Signale. Die vielen Teilnehmer unserer Kinderprogramme zeigen, mit welchem Elan und Mut die nachfolgenden Generationen Probleme angehen. Das Gerede von einer Null-Bock-Jugend, die nur an Smartphone und PC hängt, geht mir da ehrlich gesagt auf die Nerven. Jugendliche sind so engagiert, mutig und empathisch wie es ihnen ihre Eltern vorleben.

Das Interview führte Cornelia Varwig.

Mehr zur Ausstellung im Deutschen Museum finden Sie hier.

© wissenschaft.de – Cornelia Varwig
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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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Kie|fer|fuß  〈m. 1u; Zool.〉 bei vielen Gliederfüßern auf die Mundgliedmaßen folgende Beinpaare, die zur Nahrungsaufnahme dienen u. aus Beinen zu Kiefern umgebildet worden sind

Nach|ver|dich|tung  〈f. 20; Städtebau〉 die Schaffung zusätzlichen Wohnraums in Innenstädten durch das Bebauen freier, noch unversiegelter Flächen oder durch die Erweiterung (z. B. Aufstockung) bestehender Gebäude

Bi|os  〈m.; –; unz.〉 das Leben [grch.]

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