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Ventil im Kopf

Allgemein

Ventil im Kopf
Der Altershirndruck ist eine Form der Demenz. Wird sie rechtzeitig erkannt und operiert, bleibt den Betroffenen das Vergessen erspart.

Mit einem schwarzen Filzstift zeichnet Neurochirurg Johannes Lemcke ein Schnittmuster auf die rasierte Kopfhaut seines Patienten und strichelt eine Linie über den Hals bis hinunter in die Nähe des Bauchnabels. Dann pinselt er die Haut rund um die Punkte und Striche mit einer gelben Flüssigkeit ein. Dem Bauchnabel und der Partie hinter dem Ohr widmet er sich besonders gründlich. Dann schlüpft er in die Ärmel eines grünen Mantels, den die OP-Schwester vor ihm ausbreitet.

Das OP-Team ist grün und blau gekleidet. Die Grünen sind steril, die Blauen dürfen ihnen nicht zu nahe kommen. Lemcke streckt die Arme aus. Die Schwester, grün wie er, lässt Gummihandschuhe über seine gespreizten Finger schnippen. Dann decken der Chirurg und die Schwester den Patienten ab.

Gerold Batke verschwindet unter grünen Laken. Übrig bleibt ein etwa 15 mal 70 Zentimeter breiter, gelblicher Streifen Kopfhaut, den Lemcke mit Folie überklebt. Der Chirurg streckt eine Hand aus, die OP-Schwester gibt ihm ein Skalpell. Lemcke schneidet sichelförmig in die Kopfhaut. Sein Assistent, grün, hält einen Sauger an die Wunde. Ein roter Blut-Faden schiebt sich langsam durch den Schlauch. Mit einer Kauderpinzette verödet Lemcke die Blutgefäße und formt aus den Hautlappen mithilfe kleiner blauer Clips eine runde Öffnung, etwa so groß wie ein Zwei-Euro-Stück. Elfenbeinfarben und wie poliert blitzt die Schädelhaut auf, die sich über den Knochen spannt. Lemcke setzt den Bohrer an. Kurz klingt es wie beim Zahnarzt, dann schimmert es grau durch ein kleines Loch im Knochen.

glasklares nervenwasser

Batke schläft, der Herzmonitor piepst gleichmäßig. Die OP-Schwester reicht Lemcke ein angespitztes, schmales Rohr. Er sticht die Cushing-Kanüle in das Grau und schiebt sie behutsam in die Hirnmasse. Glasklares Nervenwasser sprudelt heraus. Lemcke ist am Ziel.

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Der Neurochirurg arbeitet am Unfallkrankenhaus Berlin (UKB). Die erste Begegnung mit Gerold Batke liegt drei Monate zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatte der 74 Jahre alte Berliner eine anderthalbjährige Arzt-Odyssee hinter sich. Keiner konnte ihm sagen, warum er nach und nach das Laufen verlernte. Am Ende tippelte er nur noch ein paar Meter weit, bis er die Füße gar nicht mehr vom Boden lösen konnte. Kontrolle über seine zitternden Knie zu gewinnen und sich wieder in Bewegung zu setzen, kostete ihn oft mehr Kraft, als er hatte. Manchmal schaffte er es nicht einmal bis zur Toilette.

Vorsichtshalber verließ er das Haus nicht mehr, saß meist in der Sofaecke. „Da starrte er Löcher in die Luft“, sagt seine Frau Sabine. Sie schüttelt den Kopf. „Manchmal dachte er, er müsse in die Schule. Dann sagte er: Wir müssen los, ich komme sonst zu spät zum Unterricht.“ Sie knetet ihre Hände, ihr Mann lacht leise. „Ich weiß auch nicht, wie ich da drauf gekommen bin“, entschuldigt er sich, „manchmal war ich völlig verquer.“ Von Arzt zu Arzt ist seine Frau mit ihm gegangen, ist die Strecken vorher mit der Straßenbahn abgefahren, um zu sehen, ob es irgendwo eine Treppe gibt – ein unüberwindliches Hindernis für ihren Mann. Bei den Ärzten haben sich die beiden alle möglichen Vermutungen angehört. Eher zufällig gerieten sie schließlich an eine Neurologin, die den Mann zur Kernspintomografie überwies.

Heilbare Demenz

Diese Kernspin-Aufnahme liegt im Dezember 2011 vor Lemcke. In Batkes Kopf sieht er stark vergrößerte Hirnkammern. In den bogenförmigen Flüssigkeitsspeichern hat sich Nervenwasser, sogenannter Liquor, gestaut. Die normalerweise mandelgroßen Kammern haben die Ausmaße von Kartoffeln und drücken auf das umliegende Gewebe. Das Bild lässt einen „idiopathischen Normaldruckhydrocephalus“ vermuten, eine Form des Wasserkopfs, der im höheren Lebensalter auftreten kann. Die auch als Altershirndruck bezeichnete Erkrankung ist eine Form der Demenz, muss jedoch, anders als die Alzheimer-Krankheit oder die vaskuläre – also gefäßbedingte – Demenz, nicht ins totale Vergessen münden. Vorausgesetzt, sie wird rechtzeitig erkannt und behandelt.

Etwa 60 000 Menschen in Deutschland sind nach Angaben des Hamburger Informationszentrums Altershirndruck an einem idiopathischen Normaldruckhydrocephalus erkrankt. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich sehr viel höher. Einer US-amerikanischen Untersuchung zufolge leiden 9 bis 14 Prozent der Patienten, die mit einer Demenz in Pflegeheimen leben, an Altershirndruck, könnten also behandelt werden.

Experten schätzen, dass die Krankheit bei acht bis neun von zehn Patienten übersehen wird, weil die drei Hauptsymptome – breitbeiniger, schlurfender Gang, nachlassendes Erinnerungsvermögen und Harninkontinenz – auch bei anderen Erkrankungen auftreten, etwa bei Parkinson. Bleiben die Hirnwasserkammern dauerhaft geschwollen und drücken auf das umliegende Gehirngewebe, wird es zerstört. Eine Operation gilt als einzige sinnvolle Therapie.

Medikamente schädigen langfristig die Nieren. Zudem dämmen sie die Liquorproduktion ein und wirken damit an der Ursache der Erkrankung vorbei. Denn die Hirnkammern schwellen nicht an, weil zu viel Liquor gebildet wird. Man vermutet vielmehr, dass die Hirnstammgefäße an der Schädelbasis ihre Elastizität einbüßen, weil sich in ihnen Kalk und Blutfette ablagern. So können sie das Blut, das ins Gehirn pulsiert, nicht mehr in einen gleichmäßigen Blutstrom umwandeln – für das empfindliche Denkorgan eine starke Belastung.

Die grauen Zellen versuchen, dem Pulsschlag auszuweichen. Um in der Enge seiner knöchernen Umhüllung Platz dafür zu schaffen, versucht das Gehirn, die Hirnkammern leerzupumpen. Das Aquädukt, ein Kanal zwischen den Hirnkammern, ist dafür aber zu schmal, und der Liquor staut sich, statt abzufließen.

Die Neurochirurgen am UKB forschen an der Früherkennung des Altershirndrucks. Lemcke bestellt Batke im Februar 2012 zu einigen Tests in die Klinik, um die Diagnose abzusichern. Eine Assistenzärztin zapft dem alten Mann Nervenwasser ab. Benötigte er vor dieser Prozedur für eine Gehstrecke von 10 Metern 44 Schritte in 28 Sekunden, bewältigt er die gleiche Distanz danach mit 38 Schritten in 21 Sekunden. Am nächsten Tag geht er noch sicherer – 24 Schritte in 13 Sekunden. Bei Batke und Ehefrau Sabine glimmt Hoffnung auf. Doch der Effekt hält nur ein paar Tage an, dann tippelt Batke wieder.

Für Lemcke ist nach diesem Test klar: Er kann Batke mit einer Operation helfen. Hätte sich das Gangbild des Patienten nach dieser Prozedur nicht verbessert, wäre die Ursache für seine Trippelschritte eine andere, möglicherweise eine Parkinson-Erkrankung. Doch so steht fest: Batke leidet an Altershirndruck. „Ob wir die Gedächtniseintrübungen in den Griff bekommen, weiß ich nicht genau. Das Gehirn ist schon leicht geschädigt. Aber die Gangstörung kriegen wir hin“, ist der 36 Jahre alte Neurochirurg überzeugt. „Man darf nicht unterschätzen, wie wichtig das Gehen ist. Wenn die Leute noch selbstständig laufen können, haben sie ein ganz anderes Lebensgefühl und Selbstvertrauen.“ Das wirkt sich positiv auf den gesamten Zustand aus – wer sich bewegt, hält Kreislauf und graue Zellen in Schwung.

Das Wasser muss heraus

„Die Operation ist simpel, reine Routine“, beruhigt der Neurochirurg Batke oder vielmehr dessen Frau. Batke bemüht sich zuzuhören, kann sich aber nicht lange auf die Worte konzentrieren. „Das muss meine Frau entscheiden“, sagt er mehrfach. „Unterschreiben müssen Sie aber selbst, Herr Batke“, mahnt Lemcke. Er erklärt, dass er ihm ein Ventil in den Kopf einsetzen wird. Von diesem Ventil aus leitet ein Schlauch, ein sogenannter Shunt, überflüssigen Liquor in den Bauchraum ab. Batke ist mit allem einverstanden. „Was sollen denn sonst machen?“ , sagt seine Frau Sabine. Für Johannes Lemcke ist es Routine, aber für Batke die einzige Chance, nicht unaufhaltsam den Verstand zu verlieren. Schrumpfen seine Hirnkammern nicht auf ihre normale Größe zurück, werden sie das Gehirn regelrecht zerquetschen. Das Wasser muss heraus.

Über den Kanal, den Lemcke zwischen Batkes Hirnwindungen gestochen hat, legt der Chirurg einen feinen weißen Schlauch in die Hirnkammern. Nervenwasser strömt in das Reservoir, einen winzigen durchsichtigen Zylinder, den Lemcke in das Knochenloch steckt. Er wird dort einwachsen und den Liquor zum Shunt weiterleiten, den Lemcke durch einen kleinen Schnitt hinter dem rechten Ohr vorsichtig unter die Kopfhaut seines Patienten schiebt. Sollte später zu viel oder zu wenig Liquor hindurchfließen, kann er die Ventilöffnung von außen über einen Magneten regulieren.

Den dritten Schnitt setzt Lemke am Bauch. Die Schwester reicht ihm ein etwa 50 Zentimeter langes Rohr, eine Tunnelierstange. Vorsichtig schiebt der Neurochirurg sie in den Schnitt hinter dem Ohr. Unter der Haut tastet er sich voran, schiebt mit der rechten Hand die Stange immer weiter in Batkes Körper hinein, fixiert mit der linken Hand dessen Schulter. Wie ein Maulwurfshügel wölbt sich die Haut dort, wo sich das abgerundete Ende des Tunnelierers gerade befindet. Es gräbt sich durch in Richtung Bauchnabel, stößt immer wieder suchend nach oben, und verlässt den Körper, als es den Schnitt gefunden hat. Geschafft. Vorerst.

Nun fädelt Lemcke einen Schlauch vom Ventil durch das Rohr bis zum Bauch, dann zieht er die Stange vorsichtig heraus. Mit einer kleinen Schere schneidet er durch die Bauchmuskulatur, unter der das bläulich schimmernde Bauchfell liegt. Auch dieses öffnet er und gibt den Blick frei auf rosa schimmernde Darmschlingen. Mittendrin versenkt er den Schlauch. Zwischen Schleimhäuten und Körpersäften versickert nun das Nervenwasser aus Batkes Kopf, dringt durch die Darmwand, wird verdaut und ausgeschieden. Schicht für Schicht verschließt Lemcke Batkes Körper wieder.

Zwei Tage später sitzt Batke in seinem Krankenzimmer, ein Wattebausch klebt an seinem Kopf. Er strahlt, als sei ein Vorhang vor seinen Augen beiseite geschoben worden. „Es geht mir sehr gut“ , sagt er. Er erklärt, dass er jetzt ein Ventil im Kopf hat, es aber gar nicht spürt. Unter seiner Kopfhaut zeichnet sich der Schlauch ab, wie eine zu lang geratene Schläfenader.

Verwirrung nach der Narkose

So viele Worte hat Batke vor der Operation nicht gemacht, schon gar nicht ohne Aufforderung. Allerdings wähnt er sich in einer Kaserne. „Ich weiß gar nicht, wie er darauf kommt“, sagt Sabine Batke und lächelt unsicher. „Er war doch nur sechs Wochen bei der Armee, die können sich ihm doch nicht so eingeprägt haben.“ Johannes Lemcke winkt ab: „Das darf man nicht überbewerten, so etwas kommt nach einer Vollnarkose schon mal vor“ , versucht der Arzt die Frau seines Patienten zu beruhigen.

Der Neurochirurg behält recht. Drei Wochen später in der Reha ist Batke ganz bei der Sache, als die Physiotherapeutin ihm erklärt, worauf er beim Gehen achten soll. Nach anderthalb Jahren fast ohne Bewegung ist ihm das Schlurfen in Fleisch und Blut übergegangen. Noch immer hebt er die Knie kaum an und setzt die Füße platt auf den Boden. Doch er läuft ohne Stock und mit nach vorn gerecktem Kinn.

Er will endlich mal wieder ein Bier trinken gehen und mit seiner Frau einen Spaziergang machen. Dafür trainiert er die Abrollbewegung der Füße beim Gehen und wie man Unebenheiten am Boden ausbalanciert. Seine Frau ist glücklich: „Er ist wieder ganz der Alte, ich kann mich normal mit ihm unterhalten. Jetzt muss er nur noch seine Muskeln aufbauen.“ ■

Die Journalistin Jana Ehrhardt-Joswig (links) begleitete Gerold Batke über drei Monate, von der Diagnose über die OP bis zur Reha. SABETH STICKFORT (rechts) hielt die Operation in eindrucksvollen Fotos fest.

von Jana Ehrhardt-Joswig (Text) und Sabeth Stickforth (Fotos)

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