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Stimmungsmacher im Darm

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Stimmungsmacher im Darm
Darmbakterien können bei Mäusen das Verhalten verändern. Und bei Menschen?

Stellen Sie sich vor, Sie würden mit vielen anderen zusammen in einem größeren Organismus leben. Sie sind auf ihn angewiesen. Sie ernähren sich von dem, was er isst. Ist er krank oder gestresst, kriegen sie das manchmal auch zu spüren. Sie sind abhängig von ihm. Wenn Sie genug Zeit hätten – sagen wir Millionen Jahre Evolution –, würden Sie dann nicht versuchen, Kontakt aufzunehmen? Kontakt mit der Steuerzentrale dieses Organismus? Vielleicht sogar sein Verhalten beeinflussen, um das eigene Überleben zu sichern?

Im menschlichen Darm lebt eine solche Gemeinschaft. Rund 100 Billionen Bakterien, etwa zehn Mal so viele, wie der menschliche Körper Zellen hat. Sie machen bis zu zwei Kilo des Körpergewichts aus. Im Laufe der Evolution haben sie sich an ihren Wirt angepasst und bilden zusammen mit ihm eine Gemeinschaft (siehe bild der wissenschaft 6/2011, „Unbekannte Untermieter“).

Während Experten ursprünglich vermuteten, dass diese Bakterien nur einen Einfluss auf Prozesse im Darm haben, gibt es inzwischen Hinweise, dass deren Macht deutlich weiter reicht – möglicherweise bis ins Gehirn. Sie scheinen sogar beeinflussen zu können, wie sich ihr Wirt verhält und wie es ihm geht – durch eine Art Funkkontakt zur Schaltzentrale im Kopf.

Dass der Darm selbst solch einen Kontakt hält, wissen Forscher schon länger. Er sendet immer wieder Informationen ans Gehirn, etwa über Hungergefühle oder bei einer Magen-Darm-Verstimmung, und das Gehirn sendet umgekehrt Signale an den Darm, etwa um dessen Bewegungen zu steuern. Auch viele Informationen, die dem Menschen gar nicht bewusst sind, gelangen vom Darm ins Gehirn und können unter Umständen die Stimmung und das Befinden beeinflussen.

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Seit über 15 Jahren befassen sich Forscher mit dieser „ Darm-Gehirn-Achse“. Seit etwa 5 Jahren beziehen einige Wissenschaftler die Darmbakterien mit ein. Eine dieser Untersuchungen stammt von irischen und kanadischen Forschern um John Cryan vom University College Cork. Sie fütterten Mäuse mit dem Milchsäurebakterium Lactobacillus rhamnosus und testeten, ob sich das Verhalten der Tiere dadurch ändert. Dazu setzten sie die Mäuse jeweils einzeln in ein System aus vier Gängen, die sich in der Mitte trafen. Zwei Gänge waren seitlich durch Wände begrenzt, die anderen beiden waren offen. Gewöhnlich halten sich Mäuse, die nachtaktiv sind, bevorzugt in den geschlossenen und damit dunkleren Gängen auf und suchen sich geschützte Ecken. Aber die Mäuse mit Milchsäurebakterien im Futter erkundeten überraschend oft die offenen Gänge – deutlich häufiger als die Kontrollmäuse. Für die Forscher, die 2011 die Ergebnisse veröffentlichten, war klar: Die Testmäuse hatten weniger Angst als gewöhnliche Mäuse. Die Milchsäurebakterien hatten das Verhalten der Tiere verändert.

In einem weiteren Experiment erwiesen sich die Mäuse mit Bakterienkost als weniger depressiv als Vergleichsmäuse – sofern man bei Mäusen von Depression sprechen kann. Die Forscher testeten das mit dem sogenannten erzwungenen Schwimmtest: Die Nager werden dabei in ein Glas Wasser gesetzt, aus dem sie nicht herausklettern können. Sie gehen zwar nicht unter, versuchen aber trotzdem eine Zeit lang, aus dem Glas herauszukommen. Es zeigte sich, dass die Mäuse, bei denen die Bakterien die Darmflora verändert hatten, später aufgaben als die Vergleichstiere. Genau den gleichen Effekt hatten Antidepressiva. Daher deuteten die Wissenschaftler das frühere Aufgeben als depressionsähnliches Verhalten.

Die Bakterien beeinflussten aber nicht nur das Verhalten der Mäuse, sondern auch die Neurochemie im Gehirn. Bei den mit Milchsäurebakterien gefütterten Mäusen war die Menge bestimmter Rezeptoren in verschiedenen Gehirnregionen höher beziehungsweise niedriger. Diese Rezeptoren erkennen das Molekül GABA, das physiologische und psychologische Prozesse steuert. Bei Depressionen und Angsterkrankungen ist die Menge der GABA-Rezeptoren oft verändert.

Fast zeitgleich machte eine andere Arbeitsgruppe aus Kanada ähnliche Beobachtungen. Sie veränderte die Darmflora von Mäusen durch eine Antibiotika-Mischung. Auch diese Manipulation spiegelte sich im Verhalten der Testmäuse wider: Sie erkundeten in Verhaltensexperimenten verstärkt ihre Umgebung. Und auch hier konnten die Forscher chemische Auffälligkeiten im Gehirn feststellen. Setzten die Forscher die Antibiotika ab, so normalisierte sich das Verhalten der Versuchstiere wieder.

Andere Wissenschaftler untersuchten spezielle Labormäuse ohne Darmbakterien. Sie werden von Geburt an so aufgezogen, dass ihr Darm steril bleibt und sich keine Bakterien in ihm ansiedeln. Die sterilen Mäuse waren in Versuchen hyperaktiv und weniger ängstlich als solche mit normaler Darmflora.

Auf welche Weise die Bakterien mit dem Gehirn in Kontakt treten, ist bisher kaum erforscht. Immerhin konnten die Wissenschaftler um John Cryan in ihrer Mausstudie zeigen, dass der Vagus-Nerv dabei eine Rolle spielt. Mäuse, bei denen die Wissenschaftler den Nerv durchtrennt hatten, verhielten sich wie die Kontrollmäuse, auch wenn sie Milchsäurebakterien im Futter hatten. Die Bakterien beeinflussten ihr Verhalten also nicht, was darauf schließen lässt, dass der Vagus-Nerv nötig ist für die Kommunikation zwischen Darmbakterien und Gehirn.

Auf den ersten Blick kann man kaum glauben, dass die Darmbakterien einen so großen Einfluss auf ihren Wirt haben. „ Weil der Gedanke neu ist, überrascht er. Aber wenn man darüber nachdenkt, wie komplex das ganze System ist, ist er durchaus logisch“, meint Emeran Mayer. Der gebürtige Deutsche ist Direktor des Zentrums für Stressneurobiologie an der University of California in Los Angeles und befasst sich schon lange mit der Kommunikation zwischen Darm und Gehirn. Obwohl er noch auf eine Bestätigung der ersten Forschungsergebnisse wartet, erscheint ihm die Kommunikation zwischen Gehirn und Darmbakterien plausibel: „ Wir sind erst am Anfang. Die Tatsache, dass Wirt und Bakterien schon seit Millionen Jahren zusammenleben, deutet für mich darauf hin, dass sich eine Interaktion mit dem Gehirn entwickelt hat. Man kann es sich fast gar nicht anders vorstellen. Schließlich hängen die Bakterien von den Nährstoffen ab, die ihnen der Wirt durch sein Essen liefert.“

Die Ergebnisse aus den Tierversuchen könne man aber nicht ohne Weiteres auf den Menschen übertragen, betont Mayer. „Im Menschen sind die Emotionen viel komplexer. Das menschliche Gehirn besitzt Teile, die im Mäusegehirn fehlen, beispielsweise den präfrontalen Cortex. Dieser kann theoretisch alle anderen, primitiveren Systeme überschreiben. Das bedeutet, es könnte zwar ein Signal von den Darmbakterien bis zum Gehirn gelangen, das aber möglicherweise nicht zur Entstehung einer Emotion ausreicht.“

Es gibt allerdings Indizien dafür, dass die Darmbewohner auch beim Menschen ein gewisses Mitspracherecht haben. So spielt die Darmflora bei Darmerkrankungen oft eine Rolle, und viele Patienten mit Darmerkrankungen leiden unter psychischen Beschwerden. Ob es dazwischen aber einen ursächlichen Zusammenhang gibt, ist bisher nicht klar.

Studien, die das Wechselspiel zwischen Darmbakterien und Psyche am Menschen untersuchen, sind noch selten. Eine kleine Pilotstudie mit 35 Probanden zeigte einen möglichen Einfluss der Darmbakterien bei Patienten, die am chronischen Erschöpfungssyndrom leiden. Diese Krankheit geht häufig mit psychischen Beschwerden einher, am häufigsten mit Angststörungen. Und die Patienten weisen meist eine veränderte Darmflora auf. In der Studie nahmen die Testpersonen zwei Monate lang Milchsäurebakterien zu sich. Sie hatten daraufhin weniger Angstsymptome als die Vergleichsgruppe, die ein Placebo bekam.

Kirsten Tillisch, eine Mitarbeiterin von Emeran Mayer an der University of California, erforscht ebenfalls eine mögliche Kommunikation zwischen Darmbakterien und Gehirn. Sie hat untersucht, ob bestimmte Bakterien im Darm von gesunden Menschen die Hirnaktivität verändern können. Dazu zeigte sie Testpersonen Bilder mit negativen Gesichtsausdrücken und maß dabei die Gehirnaktivität. Bei Probanden, die zuvor vier Wochen lang ein probiotisches Milchprodukt – also Milchsäurebakterien – zu sich genommen hatten, war die Hirnaktivität beim Betrachten der negativen Gesichtsausdrücke schwächer als bei Probanden der Kontrollgruppe. „Ein potenziell bedrohliches Signal aus der Umgebung, etwa ein böser Gesichtsausdruck, führt zu einer Antwort des Körpers, etwa zu einer veränderten Darmbeweglichkeit. Und diese meldet der Darm zurück an das Gehirn“, erklärt Tillisch. „ Die Studie deutet darauf hin, dass das Probiotikum das Signal, das vom Darm ins Gehirn geht, dämpft.“ Tillisch warnt aber davor, dieses Ergebnis vorschnell zu interpretieren: „Man soll nicht pauschal daraus schließen, dass ein Probiotikum jemanden weniger emotional oder ungezwungener machen kann.“

Emeran Mayer möchte den Forschungszweig weiter vorantreiben. „ Ich hoffe, es bewahrheitet sich, dass die Darmbakterien beim Menschen einen Einfluss auf die Psyche haben“, sagt er. „Die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben könnten, wären fantastisch: Beispielsweise könnten Therapien bei Angstzuständen und anderen psychischen Erkrankungen auf einer Umstellung der Ernährung aufbauen.“ ■

FREDERIKE BUHSE, Biochemikerin und Journalistin, freut sich, dass die Erforschung unserer bakteriellen Mitbewohner Fahrt aufnimmt.

von Frederike Buhse

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