Nicht nur die Fantasiegestalten der Krimiautoren, auch viele real existierende Mörder und Gräueltäter ziehen das Publikum, die Menschen in ihrem Umfeld und sogar ihre Opfer in den Bann. Wie es ihnen gelingt, das kritische Urteil völlig außer Kraft zu setzen, hat der Psychiatrie-Professor Borwin Bandelow anhand von Aktenstudien und Interviews mit Opfern und Tätern beleuchtet.
Ein markantes Beispiel: Johann „Jack“ Unterweger, der eine junge Frau grausam erdrosselt hatte, wurde in der Haft zum umjubelten „Knastpoeten“ und gewann bekannte Intellektuelle für ein Gnadengesuch. Eine Gnade, die er missbrauchte, um eine Blutspur von Mord und Folter zu ziehen. Bandelows verstörende Erkenntnis: Wenn solche Fürsprecher erfahren, aus welchem Holz ihr „Mandant“ gestrickt ist, biegen sie sich die Fakten so zurecht, dass er als Verleumdungsopfer erscheint.
Selbst die Gequälten sind nicht vor der Verblendung gefeit. So ließ Natascha Kampusch, die acht Jahre in der Gefangenschaft von Wolfgang Priklopil verbrachte, etliche Fluchtchancen ungenutzt. Eine Erklärung für dieses Verhalten ist das Stockholm-Syndrom: Viele Geiseln fühlen sich nach einiger Zeit zu ihren Unterdrückern hingezogen. Befremdlich ist allerdings, dass Bandelow die Motivation der Täter stereotyp auf die obskure Borderline-Störung reduziert, was derzeit in der Psychiatrie in Mode ist. Rolf Degen
Borwin Bandelow WER HAT ANGST VORM BÖSEN MANN? Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2013 346 S., € 19,95 ISBN 978–3–498–00666–2 E-Book für € 16,99 ISBN 978–3–644–02671–1