Weltbild auf die Landschaft projiziert
Um mehr über die Bedeutung und Inhalte der Felsbilder herauszufinden, untersuchten Simek und seine Kollegen insgesamt 44 Open Air Kunstwerke und 50 Höhlenmalereien auf dem Cumberland Plateau. Mit Hilfe von Laserscannern gelang es ihnen, selbst verblasste und beschädigte Steinzeit-Kunstwerke zu erkennen und zu analysieren. Dabei stießen sie auf einen überraschenden Zusammenhang von Farben, Inhalten und der jeweiligen Lage der Bilder: „Offensichtlich haben die Steinzeitbewohner dieser Region die Eigenheiten der Landschaft bewusst als eine Art topografische Leinwand genutzt, um ihr Weltbild darzustellen“, erklärt Simek. Die Künstler teilten ihre dreidimensionale „Leinwand“ dabei in drei deutlich erkennbare Bereiche ein:
Die Bilder, die an den offenen, der Sonne zugewandten Felswänden der Hügelgipfel und oberen Schluchtränder liegen, stellen meist Szenen der „oberen Welt“ dar, wie die Forscher erklären. In diesen Ritzzeichnungen und Malereien dominieren Strahlenkreise als Symbole für Sonne und Sterne, aber auch Linien und Formen, die Regen und andere Wettereignisse darstellen. Häufig zeigen sie auch menschenähnliche Gestalten mit Hörnern, besonders langen Armen oder Fingern und anderen Besonderheiten. Nach Ansicht der Archäologen symbolisieren diese Darstellungen eine Art himmlische Sphäre – den Ort, an dem höhere Gewalten herrschen und das menschliche Schicksal bestimmen. Die Felsmalereien seien meist in roter Farbe ausgeführt – sie stehe in vielen prähistorischen Kulturen für das Leben. Tiefer liegende Freilandbilder und einige Höhenmalereien repräsentieren dagegen die mittlere, die natürliche Welt, erklären Simek und seine Kollegen. Sie zeigen neben Menschenfiguren in Alltagssituationen auch zahlreiche Tiere und Pflanzen.
Hunde und Vögel in der Unterwelt
Die „Unterwelt“ bildeten die Steinzeitkünstler dagegen in den tieferen Zonen der Höhlen ab. Meist schwarz eingefärbt, tummeln sich hier seltsame Mischwesen, aber auch Schlangen und hundeähnliche Gestalten, die offenbar als Begleiter der Toten galten. „Interessanterweise gehören aber auch Vögel, meist im Flug gezeichnet, zu den häufigsten Darstellungen der Felskunst in diesen dunklen Zonen“, berichten die Forscher. Das sei erstaunlich, denn auf der Basis anderer präkolumbianischer Felszeichnungen des amerikanischen Südwestens habe man sie bisher eher als der himmlischen Sphäre zugehörend interpretiert. Auf dem Cumberland Plateau finden sich die Vogelbilder dagegen fast ausschließlich in den Höhlen. Vielleicht symbolisiert dies im Glauben der dort lebenden Steinzeitmenschen, dass auch die Unterwelt für Seelen durchlässig ist, mutmaßen die Archäologen.
„Unsere Ergebnisse öffnen uns ein Fenster in das, was die Ureinwohner Amerikas vor mehr als 6.000 Jahren glaubten“, sagt Simek. Offenbar sei das Cumberland Plateau eine Art heiliges Terrain gewesen, das sich über hunderte Kilometer erstreckte – quasi eine Art Bühne für ihr dreigeteiltes Universum, in dem sich eine Vielfalt von Wesen tummelte, von mythischen Gottgestalten über Monster bis hin zu Kreaturen, die zwischen den Ebenen wechseln konnten.