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Das nicht-ganz-so-absolute Gehör

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Das nicht-ganz-so-absolute Gehör
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Menschen mit absolutem Gehör erkennen Töne problemlos - solange sie vorher nicht verzerrte Versionen davon gehört haben. Bild: Wikimedia Commons
Interessante Nachrichten für alle, die mit dem absoluten Gehör gesegnet sind – die also ohne Referenz erkennen können, welchen Ton sie gerade hören: Ganz so absolut, wie bisher gedacht, ist diese Fähigkeit anscheinend nicht. Das haben amerikanische Psychologen jetzt gezeigt. Sie entwarfen dazu ein Experiment nach dem Vorbild des Froschs, der der Legende nach zwar aus kochendem Wasser sofort herausspringt, jedoch darin sitzen bleibt, wenn man warmes Wasser langsam bis zum Kochen erhitzt: Während ihre Probanden mit absolutem Gehör ein Musikstück anhörten, ließen die Psychologen die Tonhöhe langsam absinken. Resultat: Keiner der Testteilnehmer bemerkte die Manipulation – und das, obwohl am Ende ein Tonhöhenunterschied entstanden war, den sie normalerweise problemlos hören konnten.

Es war die 1. Sinfonie in c-Moll von Johannes Brahms, die die Wissenschaftler ihre 13 Probanden im ersten Teil der Studie anhören ließen. Während des ersten Satzes, der etwa 15 Minuten dauert, ließen sie die Tonhöhe dabei langsam absinken, genauer gesagt: um ein Fünfzigstel eines Halbtons pro Minute. Das ist so wenig, dass selbst geschulte Ohren den Unterschied nicht hören können. Insgesamt kam so allerdings eine Veränderung der Tonhöhe um ein Drittel eines Halbtons zustande – und diesen Unterschied kann man durchaus hören. Anschließend hörten sich die Testteilnehmer noch den zweiten, dritten und vierten Satz der Sinfonie ohne es zu wissen in der veränderten, tieferen Tonlage an. Insgesamt dauerte diese Phase etwa 30 Minuten.

Alles auf Anfang

Ein Hörtest am Ende der Session zeigte dann: Bereits diese kurze Zeit reichte aus, um das Gehör der Probanden sozusagen neu zu kalibrieren. Sie werteten nun Töne, die in das manipulierte tiefere Tonsystem passten, als korrekt, während die eigentlich richtigen Töne als zu hoch empfunden wurden. Allerdings galt das nur dann, wenn diese Töne von Instrumenten vorgespielt wurden, die auch im zuvor gehörten Stück vorkamen. Waren es dagegen beispielsweise Klaviertöne, die in der Sinfonie nicht vorkommen, verschwand die Verzerrung und die Probanden hörten wieder wie gewohnt den richtigen Ton heraus.

Im zweiten Teil der Studie wollten die Wissenschaftler dieses Phänomen noch einmal genauer untersuchen und zudem testen, ob nur die Töne betroffen sind, die die Probanden im Stück hören oder ob das gesamte Tonsystem von der Neukalibrierung erfasst wird. Dazu ließen sie 14 weitere Freiwillige mit absolutem Gehör eine Folge von nur fünf Tönen hören, die jedoch in verschiedenen Geschwindigkeiten und verschiedenen Abfolgen übereinander gelegt waren. Wieder wurde 15 Minuten lang die Tonhöhe manipuliert, wieder folgten darauf 30 Minuten in der tieferen Tonlage. Anschließend gab es erneut den Hörtest, diesmal mit einer Geige und einem Waldhorn. Das Ergebnis war das gleiche, zeigte die Auswertung: Der gefühlte Standard verschob sich für die Probanden nach unten, und wieder galt das nur für die Geige, die bereits bei den fünf Tönen eingesetzt worden war, und nicht für das zuvor nicht gehörte Waldhorn. Der Verschiebung betraf allerdings nicht nur die fünf Töne aus dem Stück, sondern das gesamte Tonsystem.

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Keine absoluten Frequenzen

Das verrate einiges über das Entstehen des absoluten Gehörs, das bis heute nicht genau verstanden ist, kommentieren die Wissenschaftler. Die überraschend schnelle Anpassung schließt ihrer Ansicht nach eine der gängigen Theorien praktisch aus – nämlich die, dass im Gehirn den Tonnamen feste Frequenzen zugeordnet werden und damit ein fixiertes Referenzsystem entsteht, das ein Leben lang hält. Vielmehr scheint das absolute Gehör grundsätzlich auf einer erlernten Verbindung einer gehörten Tonhöhe und eines dazu passenden Namens zu basieren. Diese ist jedoch nicht dauerhaft fixiert, sondern muss immer wieder durch das erneute Hören dieser Kombination gefestigt und bestätigt werden. Die Neukalibrierung basiert dabei offenbar vor allem auf kürzlich Gehörtem und auf dem Charakter der Noten innerhalb eines musikalischen Kontexts.

Sie bezieht zwar alle Töne des entsprechenden Systems mit ein, nicht jedoch unterschiedliche Klangfarben, betonen die Forscher. Es sei fast, als habe jede Instrumentenstimme sozusagen ihre eigene, von den anderen unabhängige Kalibrierung. Das erkläre auch, warum es Menschen gibt, die problemlos jeden Ton auf einem Klavier erkennen können – während sie bei allen anderen Instrumenten scheitern.

Stephen Hedger (University of Chicago) et al.: Psychological Science, doi: 10.1177/0956797612473310 © wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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