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Von Hirnzellen und Atomtests

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Von Hirnzellen und Atomtests
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Atombombentests wie dieser in Nevada im Jahr 1957 liefern überraschende Erkenntnisse über das menschliche Gehirn. Bild: Thinkstock
Und sie vermehren sich doch! Auch im erwachsenen Gehirn bilden sich immer wieder neue Nervenzellen, konnten Forscher jetzt zweifelsfrei belegen – mit einer ungewöhnlichen Methode: Sie nutzten die drastisch erhöhte Menge einer bestimmten Kohlenstoffform in der Luft nach den Atombombentests zwischen 1955 und 1963 aus, um das Geburtsjahr einzelner Hirnzellen zu bestimmen. Dabei zeigte sich: In einem bestimmten Teil des Hippocampus, einer unter anderem für das Gedächtnis entscheidenden Hirnregion, werden jeden Tag neue Nervenzellen gebildet – und zwar das ganze Leben lang. Die schlechte Nachricht: Größer wird das Hirn dadurch nicht, es werden nämlich parallel alte Nervenzellen abgebaut.

„Lange Zeit wurde angenommen, dass wir mit einer bestimmten Anzahl von Hirnzellen geboren werden, und dass es nicht möglich ist, neue Neuronen nach der Geburt zu bilden“, erläutert Studienleiter Jonas Frisén vom Karolinska-Institut in Stockholm den Hintergrund. Bei vielen Tieren, vor allem bei den als Modellen sehr beliebten Nagetieren, ist das anders: Dort wird auch im erwachsenen Gehirn regelmäßig Zell-Nachschub produziert, so dass bestimmte Hirnteile sogar ständig wachsen.

Zentrale Fragen: Wo und wie viele?

Allerdings gibt es seit einiger Zeit Hinweise darauf, dass die Situation beim Menschen vielleicht doch nicht ganz so hoffnungslos aussieht wie gedacht und dass es durchaus neue Nervenzellen im Lauf des Lebens gibt. Wie viele das sind und ob sie überhaupt ausreichen, um eine Rolle für die Funktionsfähigkeit des Gehirns zu spielen, blieb jedoch vollkommen unklar. Daher suchten Frisén und seine Kollegen jetzt nach einer Möglichkeit, die neuen Mitglieder im Hirnverbund zu quantifizieren. Ihre Idee: Gelänge es, sozusagen das Geburtsjahr der einzelnen Zellen zu bestimmen, könnte man direkt sehen, ob es neue Hirnzellen im Erwachsenenalter gibt und daraus zudem berechnen, wie viele das sind.

Zu Hilfe kam ihnen dabei eine Methode, die Frisén vor ein paar Jahren entwickelt hatte. Sie nutzt einen Nebeneffekt der vielen Kernwaffentests, die während des Kalten Krieges vor allem in den Jahren 1955 bis 1963 durchgeführt wurden. Damals stieg der Anteil des Kohlenstoffisotops C-14 in der Atmosphäre drastisch an. Nach der Einigung auf einen Stopp der oberirdischen Tests 1963 begann er dann, wieder zu fallen – und zwar mit einer mittlerweile ziemlich genau bekannten Geschwindigkeit. Da das im Kohlendioxid der Luft enthaltene C-14 von Pflanzen aufgenommen wird, gelangt es auch in die Nahrungskette.

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Über die Nahrung erhält daher auch der menschliche Körper zu jedem Zeitpunkt exakt die Menge des schweren Kohlenstoffatoms, die auch in der Atmosphäre zu finden ist. Gewebe, das sich zu einer bestimmten Zeit bildet, fixiert die C-14-Konzentration wie eine Art Schnappschuss der aktuellen Gegebenheiten. Misst man diese Konzentration, kann man im Umkehrschluss ziemlich genau angeben, wann sich das entsprechende Gewebe gebildet hat – ein Prinzip, das Frisén und seine Kollegen bereits erfolgreich beispielsweise für die Altersbestimmung unbekannter Leichen eingesetzt haben.

Nach den Leichen jetzt die Gehirnzellen

Jetzt übertrug das Team dieses Messverfahren auf Gehirnzellen, die sie aus Gewebespenden Verstorbener gewannen. Die Spender waren bei ihrem Tod zwischen 16 und 92 Jahren alt gewesen und deckten damit sowohl Geburtsjahre vor 1955 als auch nach 1963 ab. Die Forscher konzentrierten sich dabei auf die DNA der Hirnzellen im Hippocampus: Wird sie gebildet, wird immer auch Kohlenstoff benötigt, so dass aus dem Verhältnis der vorhandenen Isotope und der Menge an C-14 direkt aufs Bildungsjahr geschlossen werden kann.

Gleich die ersten Daten zeigten den Forschern interessante Zusammenhänge. Bei allen Proben waren die C-14-Werte anders als für das Geburtsjahr der Spender typisch – es müsse also definitv nach der Geburt noch eine Neuronenbildung stattgefunden haben, erklärt das Team. Zudem scheint diese Neubildung im Alter zumindest nicht komplett aufzuhören: Die DNA des ältesten Spenders, der 1955 bereits 42 Jahre alt gewesen war, enthielt mehr C-14, als im Zeitraum vor den Tests in der Luft war. Sie muss sich demnach nach 1955 und damit im fünften Lebensjahrzent des Spenders gebildet haben. Allerdings scheint die Neubildung nur in bestimmten Bereichen des Hippocampus stattzufinden, wie die Forscher berichten.

Das Fazit aus dieser ersten Bewertung sei also, dass es eine nicht unbeträchtliche Neubildung von Hirnzellen im Hippocampus Erwachsener gibt, die auch im Alter nur unwesentlich langsamer wird, jedoch auf einen bestimmten Teil des Hirnareals beschränkt ist, erläutert das Team. Mit Hilfe verschiedener mathematischer Modelle konnten die Wissenschaftler dann sogar das Ausmaß der Neubildung berechnen: Täglich bilden sich demnach etwa 1.400 neue Nervenzellen, wobei die genaue Anzahl von Mensch zu Mensch schwankt. Insgesamt nehmen knapp ein Drittel aller Neuronen des Hippocampus an dieser Erneuerung teil – das passt gut zur Größe eines Areals namens Gyrus dentatus, das eh zu den Hauptverdächtigen gehört habe, sagt das Team.

Recycling statt Zuwachs

Allerdings handelt es sich laut den Forschern nicht direkt um Nervenzell-Zuwachs, wie es etwa bei Mäusen der Fall ist, sondern eher um eine Art Recyclingsystem. Denn parallel zum Neuentstehen der Neuronen werden alte Zellen abgebaut, so dass die Größe des Hippocampus im Lauf des Lebens sogar leicht abnimmt. Doch wozu dann eigentlich der ganze Aufwand? Auch darauf haben die Forscher eine Antwort: Kurz nach ihrer Geburt haben Neuronen ganz besondere Eigenschaften, die sie später wieder verlieren, etwa eine sehr große Flexibilität. Die Neubildung hat daher durchaus einen Sinn: Indem der Hippocampus dafür sorgt, dass es immer eine gewisse Menge an jungen Neuronen gibt, kann er Funktionen aufrechterhalten, die mit ausschließlich alten Nervenzellen nicht machbar wären.

Dazu gehört beispielsweise eine gute Mustererkennung, die für die Bildung neuer, differenzierter Erinnerungen wichtig ist. Ältere Neuronen sind dagegen auf das Erkennen von Gemeinsamkeiten bei Mustern spezialisiert und damit auf das Zusammenfassen ähnlicher Erinnerungen und das Generalisieren. Diesem Zusammenhang wollen die Wissenschaftler nun noch genauer nachgehen. Es sei nämlich bekannt, dass Menschen mit Depressionen oder auch anderen psychischen Problemen häufig stark zu Generalisieren neigen – und das gehe möglicherweise auf eine reduzierte Neubildung von Neuronen im Hippocampus zurück.

Kirsty Spalding (Karolinska-Institut, Stockholm) et al.: Cell, doi: 10.1016/j.cell.2013.05.002 © wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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