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Eine Pille gegen existenzielle Angst

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Eine Pille gegen existenzielle Angst
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Schmerzmittel gegen psychologisches Leiden: Paracetamol erweist sich als eine Art Tausendsassa - allerdings mit Nebenwirkungen. Bild: Thinkstock
Wer von anderen ausgegrenzt wird, fühlt sich verletzt. Und das ist durchaus nicht nur im übertragenen Sinne gemeint: Die Qual durch soziale Zurückweisungen wird vom Gehirn ganz ähnlich behandelt wie körperlicher Schmerz – und aus diesem Grund lindern Schmerzmittel wie Paracetamol sowohl das eine wie das andere, haben Forscher vor ein paar Jahren festgestellt. Jetzt zeigt sich: Der Schmerzkiller tut sogar noch mehr. Er kuriert nicht nur soziale Ausgrenzung und körperliche Schmerzen, sondern auch das diffuse Unbehagen, das beispielsweise mit intensiven Gedanken an den eigenen Tod einhergeht. Allerdings mussten die Psychologen, die das entdeckt haben, einen ziemlichen Umweg gehen, um den Effekt nachzuweisen.

Der Gedanke an den Tod – speziell an den eigenen – hinterlässt fast immer ein unangenehmes, schwer zu beschreibendes Gefühl zwischen nagender Angst und einem allgemeinen Unbehagen. In etwas weniger ausgeprägter Form entsteht diese Empfindung auch, wenn man in eine völlig unerwartete Situation gerät oder sich mit etwas konfrontiert sieht, was irgendwie nicht so recht Sinn ergeben will. Selbst beim Anschauen surrealer Filmszenen oder beim Lesen derartiger Geschichten kann es auftreten. Zurück geht es nach aktuellem Wissensstand auf eine Art Alarmsystem im Gehirn, das losgeht, wenn irgendetwas nicht stimmt.

Im Allgemeinen reagieren Menschen auf diese Alarmzeichen, indem sie versuchen, die Quelle des Übels zu beseitigen. Das gelingt allerdings nicht immer, vor allem bei den häufig schwer fassbaren Ursachen des diffusen Bedrohungsgefühls. Um sich dann trotzdem besser zu fühlen, springt ein Kompensationsmechanismus an: Wenn einem etwas derartig Spanisch vorkommen, klammert man sich an andere, bewährte Konzepte und Anschauungen – und versucht sogar, diese noch zu untermauern. Das können moralische Grundsätze ebenso sein wie eine Religion oder auch eine politische Überzeugung. Wer also durch eine unerwartete Situation oder eine gefühlte, unkonkrete Bedrohung verunsichert ist, neigt beispielsweise dazu, Gesetze strenger auszulegen oder moralische Werte vehementer zu verteidigen als sonst.

Diesen Effekt machten sich nun drei kanadische Forscher zu nutze. Ihnen war aufgefallen, dass das Alarmsystem für diffuse Unstimmigkeiten das gleiche ist, das auch bei körperlichen Schmerzen und bei sozialer Ausgrenzung aktiv wird. Da sich beides mit dem Schmerzmittel Paracetamol bekämpfen lässt, mutmaßten die Psychologen daher, dass möglicherweise auch das Unbehagen der existenziellen Angst durch die Tabletten gelindert werden könnte – und damit auch die Neigung verschwindet, strenger zu urteilen.

Sie ließen also insgesamt 328 Freiwillige antreten, von denen die Hälfte 1.000 Milligramm Paracetamol – das entspricht einer normalen Einzeldosis von zwei Tabletten – oder ein wirkstofffreies Placebo bekamen. Anschließend zeigten sie einem Teil der Probanden entweder einen surrealen Ausschnitt aus einem David-Lynch-Film oder ließen sie darüber schreiben, was nach ihrem Tod mit ihrem Körper passieren würde. Zur Kontrolle sollten die restlichen Teilnehmer über Zahnschmerzen schreiben beziehungsweise sich einen Comic ansehen. Im letzten Teil mussten alle Probanden dann eine Strafe für eine überführte Prostituierte beziehungsweise einige randalierende Fans nach einem Eishockey-Spiel festsetzen.

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Das Ergebnis fiel ziemlich eindeutig aus: Diejenigen, die über ihren eigenen Tod nachdachten, bedachten später die Prostituierte mit durchschnittlich 440 Dollar Geldstrafe und straften sie damit wesentlich härter als die Probanden, die sich stattdessen Gedanken über Zahnschmerzen gemacht hatten – sie kamen auf knapp 300 Dollar. Das galt allerdings nur dann, wenn die Teilnehmer zuvor kein Paracetamol genommen hatten. Hatten sie das Mittel dagegen bekommen, war völlig egal, ob sie sich Gedanken um ihren Tod oder um Zahnschmerzen gemacht hatten – in beiden Fällen fiel die Strafe gleich hoch aus. Der gleiche Effekt ließ sich auch bei den Lynch-Filmen und den Hockey-Randalierern nachweisen, nur war er dort nicht ganz so ausgeprägt.

Fazit der Psychologen: Paracetamol – und möglicherweise auch andere Schmerzmittel, die im zentralen Nervensystem wirken – sei also in der Lage, das Alarmsystem im Gehirn zu dämpfen. Damit wird auch das Unbehagen im Angesicht existenzieller Bedrohungen oder unwirklich und damit unsicher erscheinender Umstände reduziert. Offenbar gibt es demnach eine ganze Reihe von Situationen und Befindlichkeiten, die zumindest zu Beginn den gleichen neurologischen Pfad im Gehirn nehmen und damit auch die gleiche subjektive Empfindung von Leiden auslösen, so das Team. Das sei für die Behandlung verschiedener psychischer Probleme hochinteressant, etwa für Patienten mit chronischen Angstzuständen oder Panikstörungen.

Sich allerdings gleich selbst bei den ersten Anzeichen von Unbehagen mit einer Paracetamol-Tablette zu behandeln, ist wohl keine so gute Idee: In letzter Zeit häufen sich die Hinweise darauf, dass der Wirkstoff nicht so harmlos ist, wie man lange Zeit dachte. Er scheint vielmehr hinter einer erschreckend großen Anzahl von Fällen von Leberversagen zu stecken und kann wohl schon in relativ niedrigen Dosen Schäden an der Leber hervorrufen.

Daniel Randles (University of British Columbia) et al.: Psychological Science, doi: 10.1177/0956797612464786 © wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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