Aufgrund der großen Unterschiede zwischen den beiden Konzepten hatten Wissenschaftler lange angenommen, dass es sich auch um zwei verschiedene Fähigkeiten handelt, die nicht oder nur indirekt zusammenhängen. Erst in den letzten Jahren häuften sich die Hinweise darauf, dass die Entwicklung des mathematischen Verständnisses möglicherweise doch auf dem ursprünglicheren Zahlensinn aufbaut. Allerdings seien bei den bisherigen Studien zu diesem Thema immer Probanden untersucht worden, die bereits mehrere Jahre mathematischer Ausbildung hinter sich hatten, merkt Studienleiterin Melissa Libertus von der Johns Hopkins University in Baltimore an. Da in solchen Fällen nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Qualität des Unterrichts die Ergebnisse verfälscht, entschieden sie und ihre Kollegen sich, in der aktuellen Untersuchung nur Kinder im Alter zwischen drei und fünf Jahren zu erfassen, die noch keinen Matheunterricht besuchten.
Alle Probanden absolvierten zuerst einen Schätztest, bei dem auf einem Bildschirm kurz unterschiedliche Mengen von blauen und gelben Punkten erschienen. Die Kinder sollten jeweils angeben, ob sie mehr blaue oder mehr gelbe Punkte gesehen hatten (einen ähnlichen Test, allerdings in englischer Sprache, findet man unter www.panamath.org/testyourself.php). Anschließend testeten die Forscher noch, wie gut die Kleinen mit komplexeren mathematischen Aufgaben zurechtkamen: Sie ließen sie Objekte zählen, zwei gesprochene Zahlen vergleichen, Ziffernkombinationen ablesen, einfache Additionen durchführen und fragten nach Zahlkonzepten.
Die Auswertung zeigte: Je exakter die Kinder in der Schätzaufgabe gewesen waren, desto besser waren auch ihre höheren mathematischen Fähigkeiten ausgebildet. Dieser Zusammenhang blieb auch dann bestehen, wenn die Sprachfähigkeit und die allgemeine Intelligenz mit berücksichtigt wurden. Demnach scheint der angeborene Zahlensinn zumindest mitzubestimmen, wie gut man sich später andere mathematische Konzepte erarbeiten und den Umgang mit größeren Zahlen lernen kann, schlussfolgert das Team.
Die Fragen, die sich nach Ansicht der Forscher jetzt aufdrängten, seien vor allem: Kann man den Zahlensinn gezielt trainieren? Wenn ja, hilft das beim Mathelernen? Und ist es möglich, den Unterricht so zu gestalten, dass der Zahlensinn stärker genutzt wird? Ebenfalls unklar bleibe bisher, was der Verbindung der beiden Fähigkeiten zugrunde liegt. Es sei beispielsweise möglich, dass Kinder mit einem besseren Zahlensinn wirklich leichter und schneller den Umgang mit Zahlsymbolen lernen. Alternativ könne aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass Kinder mit einem weniger gut ausgeprägten Mengenverständnis sich einfach weniger für Zahlen und deren Anwendung interessieren. Das wollen die Forscher als nächstes untersuchen.