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Ute Kehses Japan-Report: Erreicht Fukushima-Fallout die Dimension von Tschernobyl?

Astronomie|Physik Erde|Umwelt

Ute Kehses Japan-Report: Erreicht Fukushima-Fallout die Dimension von Tschernobyl?
Brände, Dampfwolken und nun radioaktiv verseuchtes Wasser im Reaktorkeller: Viele Nachrichten lassen darauf schließen, dass die drei zerstörten Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima I nicht mehr dicht sind. Allerdings ist wenig bis gar nichts darüber zu hören, wie viel radioaktives Material wirklich in die Umwelt entweicht. Die Grafik des Betreibers Tepco von Messstationen am Kraftwerk zeigt nur wenige Spitzen bei der Strahlendosis. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA meldete dagegen gestern, dass die Strahlendosis 21 Kilometer vom Kraftwerk entfernt fast auf das 600-Fache des natürlichen Wertes erhöht ist. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) kommt aufgrund verschiedener Messwerte zu der Einschätzung, von der Anlage Fukushima I gehe „eine massive und andauernde Freisetzung von Radioaktivität in die Umwelt“ aus. Etwas konkreter sind die Ergebnisse von Gerhard Wotawa von der österreichischen Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien. Er hat die Menge der radioaktiven Isotope Jod-131 und Cäsium-137 berechnet, die Fukushima I während der ersten drei Tage, vom 12. bis 14. März freisetzte. Das Ergebnis: Die Werte liegen fast so hoch wie bei der Katastrophe von Tschernobyl.

Dennoch ist Fukushima nach wie vor nicht mit dem Super-GAU von Tschernobyl zu vergleichen. „Das Szenario ist hier ein ganz anderes“, sagt José Broekaert, Professor für Analytische Chemie an der Universität Hamburg. Aus den schwer beschädigten Fukushima-Reaktorkernen entweichen vor allem flüchtige Stoffe wie Jod-131, Cäsium-137 und radioaktive Isotope des Edelgases Xenon. Der zehn Tage dauernde Brand des Reaktorkerns in Tschernobyl schleuderte dagegen auch weniger flüchtige radioaktive Isotope in die Umwelt, etwa Strontium und Barium, dazu auch Brennmaterial aus dem Kern wie Plutonium. Durch den Brand bildete sich zudem ein Kamineffekt aus, wodurch radioaktives Material in hohe Atmosphärenschichten gelangte und sich mit den vorherrschenden Winden über Tausende Kilometer bis nach Westeuropa ausbreitete. Das führte insgesamt zu einer wesentlich höheren Strahlenbelastung als jetzt in Japan, vor allem in der näheren Umgebung des Unglücksreaktors.

Wotawa nutzte für seine Berechnungen die Detektoren der CTBTO. So heißt die UN-Organisation zur Überwachung des internationalen Kernwaffenteststopp-Abkommens. Derzeit 60 Stationen weltweit messen ständig die Konzentration von etwa einem Dutzend Radionukliden in der Luft. Die hochempfindlichen Messgeräte sind in der Lage, auch kleinste Mengen von radioaktiven Partikeln aufzuspüren, die bei Atomwaffentests freigesetzt werden. So soll die Einhaltung des Abkommens überwacht werden. Ab dem 17. März registrierten Stationen in Japan, Kalifornien, Alaska und Russland radioaktive Partikel aus Fukushima (siehe auch Bericht vom Montag). Wotawa nutzte diese Messwerte und zudem meteorologische Daten, um zurückzurechnen, wie viel radioaktives Jod und Cäsium freigesetzt wurden.

Das Ergebnis: In den ersten Tagen stieß Fukushima 1,3 mal 10 hoch 17 Becquerel radioaktives Jod pro Tag aus, in Worten: 130 Billiarden Becquerel. Das klingt zuerst einmal gewaltig. Rechnet man jedoch die Zahl der Zerfälle in Massen um (ein Becquerel entspricht einem zerfallenen Atom pro Sekunde), kommt man auf Werte im Grammbereich. Tschernobyl setzte wohl insgesamt 380 Gramm Jod-131 oder 1,76 mal 10 hoch 18 Becquerel innerhalb von zehn Tagen frei, also pro Tag etwa ein Drittel mehr als Fukushima. Diese relativ gering scheinende Menge an radioaktivem Jod war allerdings für etwa ein Zehntel der insgesamt in Tschernobyl freigesetzten Strahlung verantwortlich, zudem verursachte die Substanz geschätzte zusätzliche 6.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern.

Beim Cäsium errechnete Wotawa für Fukushima etwas mehr als die Hälfte der in Tschernobyl emittierten Menge. José Broekaert von der Uni Hamburg hält Wotawas Berechnungen für plausibel: „Diese Werte sind sicher nur eine grobe Näherung, geben aber die Größenordnung der freigesetzten Radioaktivität an“, sagt er.

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Das britische Wissenschaftsmagazin New Scientist vermutet, dass sich die hohen Werte dadurch erklären, dass im gesamten Fukushima-Komplex mit 1.760 Tonnen zehnmal so viel Brennmaterial lagert wie im Unglücks-Reaktor von Tschernobyl. Wie viel davon beschädigt ist, bleibt aber nach wie vor unklar.

Immerhin war die Windrichtung in Fukushima bislang meist günstig. Die radioaktive Wolke trieb auch in dieser Woche oft nach Osten in Richtung Pazifik. Aber eben nicht immer. Die bisher freigesetzte Radioaktivität dürfte „langfristige Auswirkungen sowohl auf die Umwelt als auch auf die Menschen in der Region um Fukushima haben“, heißt es beim Bundesamt für Strahlenschutz. Die Wissenschaftler dort gehen davon aus, dass Lebensmittel aus der Region „auch längerfristig stärker kontaminiert sein werden.“

Alle Beiträge in Ute Kehses Japan-Report finden Sie hier

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