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Ute Kehses Japan-Report: Die Schweiz als Vorbild

Astronomie|Physik Erde|Umwelt

Ute Kehses Japan-Report: Die Schweiz als Vorbild
Drei Monate hat sich die Bundesregierung Zeit genommen, um die Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke zu überprüfen. Viel wird jetzt darüber diskutiert, wie stark Erdbeben in Deutschland werden können. Ist die Seismizität wirklich “gering bis moderat”, wie die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover in einer Pressemitteilung beruhigt? Oder gibt es ein “Starkbeben-Risiko”, wie Spiegel Online meldet?

“Das sind die falschen Fragen”, sagt der Seismologe Frank Scherbaum von der Universität Potsdam. Die richtige Frage ist etwas komplizierter, seiner Meinung nach muss sie lauten: “Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Erdbeben die Beschleunigung überschritten wird, für die deutsche Kraftwerke ausgelegt sind?” Es geht also nicht um Erdbebenstärken, sondern um die Bewegung des Bodens. Und da kann ein verhältnismäßig schwaches, aber nahes Erdbeben eben viel heftiger sein als ein stärkeres, aber weiter entferntes. Das zeigte erst jüngst das Beben in Christchurch am 21. Februar 2011. Die Erdstöße hatten die Magnitude 6,3 und waren eigentlich “nur” ein Nachbeben. Das Hauptbeben im September 2010 hatte die Magnitude 7,0. Dabei wurde gut zehnmal soviel Energie frei (die Magnitudenskala ist logarithmisch, pro Magnitude steigt die freigesetzte Energie um den Faktor 27). Trotzdem hielt sich die Zerstörung in Grenzen, niemand kam ums Leben. Doch im Februar lag das Epizentrum viel flacher, nur fünf Kilometer tief und fast direkt unter der Stadt. Dementsprechend heftiger waren die Erschütterungen. Mindestens 65 Menschen starben in den Trümmern zerstörter Gebäude.

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Beschleunigung an einem Ort auftritt, kann man berechnen, sagt Scherbaum. Und zwar mit einem aufwendigen Verfahren mit sperrigem Namen, der “probabilistischen seismischen Gefährdungsanalyse” (genaueres dazu finden sie beispielsweise hier). Es funktioniert folgendermaßen: Zunächst wird die Wahrscheinlichkeit dafür bestimmt, dass ein Erdbeben einer bestimmten Stärke an einer Störungszone innerhalb eines Jahres auftritt. Anschließend werden die resultierenden Beschleunigungen am Standort ausgerechnet. Schließlich muss man für jeden Beschleunigungswert die Wahrscheinlichkeit für alle denkbaren Erdbeben aufsummieren. So erfährt man schließlich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine bestimmte Beschleunigung innerhalb eines Jahres überschritten wird. “In Deutschland wurde das Risiko aber bislang nicht nach dieser Methode bestimmt”, sagt Scherbaum.

Derzeit wird die sogenannte “deterministische Gefährdungsanalyse” angewandt. Sie geht vom Konzept des schlimmsten denkbaren Erdbebens aus. In der Praxis wird dafür meist das stärkste Erdbeben gewählt, das in der Vergangenheit aufgetreten ist. Anschließend wird noch einen Sicherheitsspielraum aufgeschlagen. “Bei dieser Betrachtungsweise ignoriert man aber sogenannte ‘Black-Swan-Ereignisse’, die sehr selten, aber nicht unmöglich sind”, sagt Scherbaum. Er glaubt, dass sich Menschen bei der Frage, was im ungünstigsten Fall passieren kann, zu leicht von ihren eigenen Erfahrungen irreführen lassen ? ein Phänomen, das Psychologen Verfügbarkeitsfalle nennen. Da das stärkste bekannte Beben in Japan in der Vergangenheit die Magnitude 8,4 erreichte, wurde beim Bau der Kraftwerke davon ausgegangen, dass es auch in Zukunft keine stärkeren Beben geben wird. Ein Trugschluss, wie sich nun zeigte. “Es ist schlicht eine Illusion, zu glauben, dass man die Gefährdung mit einem einzigen Szenario sicher abschätzen kann. Das ist nun in Japan auf tragische Weise klargeworden”, sagt Scherbaum.

Dass sich ein zehn Meter hoher Tsunami ereignen könnte, hatte dort offenbar niemand berücksichtigt. “Wenn man diese Möglichkeit bei der Planung einbezogen hätte, hätte man sehr schnell gemerkt, dass man ein Problem hat”, sagt Scherbaum. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Notstromaggregate im Kraftwerk Fukushima I unterirdisch einzubauen, damit die schlimmste denkbare Störung, der Stromausfall, auch bei einem Tsunami nicht hätte eintreten können.

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Wie das Risiko für die deutschen Kraftwerke nun neu bestimmt werden könnte, zeigt ein Blick in die Schweiz. Das Nachbarland legte bereits 2007 die Pegasos-Studie vor, in der die Erdbebengefährdung für die vier eidgenössischen Kernkraftwerke mit der probabilistischen Methode neu bewertet wurde. Darin heißt es: “Die standortnahen Erdbeben mit relativ kleinen Magnituden zwischen 5 und 6 [bestimmen] die Gefährdung stärker (?) als weiter entfernte starke Beben mit Magnituden größer als 7.” So etwas wie Christchurch könnte also auch in der Schweiz passieren, heißt das wohl. Als Konsequenz aus dem Bericht werden die Kraftwerke nun nachgerüstet, in fünf Jahren sollen die Arbeiten beendet sein, melden Schweizer Zeitungen.

Letztlich müsse hierzulande die Gesellschaft entscheiden, was sie als sicher erachtet, meint Frank Scherbaum: “Risiko ist nicht nur das, was wir als Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer bestimmten Gefahr errechnen, sondern es ist ein gesellschaftliches Konstrukt.” Welche Gefahren akzeptabel sind, ist letztlich keine wissenschaftliche Frage mehr.

Alle Beiträge in Ute Kehses Japan-Report finden Sie hier

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