Wer heute auf Nôtre Dame, das Ulmer Münster oder den Kölner Dom blickt, mag sich angesichts der schieren Größe wundern: Wie haben die Menschen des Mittelalters das nur geschafft? US-Kunsthistoriker Andrew Tallon vom Vassar College in Poughskeepsie hat dazu eine Antwort gefunden, indem er gotischen Bauten mit dem Laser zu Leibe rückt. Mithilfe eines 3D-Laserscanners sammelt er Messdaten von den Innen- und den Außenflächen der Kathedralen. Dafür stellt Tallon in einer Kirche sein Gerät an circa 75 Stellen auf und lässt es messen, um schließlich mit einer Milliarde Messpunkte an den Rechner zurückzukehren. Ein CAD-Programm verbindet dann die Daten zu exakten 3D-Modellen der Kathedralen. Am Computermodell macht sich der Kunsthistoriker anschließend auf die Suche nach Anomalien.
Kirchen mit Eigenleben
Zum Beispiel in der Pariser Nôtre Dame, die von 1163 bis 1345 errichtet wurde: Im Fall dieser Kathedrale konnte Tallon feststellen, dass sich der Bau permanent ausdehnt und verschiebt. Damit konnte er widerlegen, was Kunsthistoriker lange vermuteten – dass gotische Kathedralen ihre Wirkung deshalb erzielen, weil die Architekten bewusst Unregelmäßigkeiten eingebaut hätten. Doch ganz im Gegenteil: Sie strebten eine perfekte Symmetrie an, doch einmal erbaut, entwickeln die Kirchen Eigenleben, Mauern und Pfeiler heben und senken sich.
Neben Nôtre Dame hat Andrew Tallon weitere französische Kathedralen vermessen – und stellte fest, dass sich seit dem Mittelalter nicht nur das Antlitz vieler Kirchen stark verändert hat, sondern damit auch die Akustik der Kirchenräume. Indem er die Kathedralen am Rechner in ihren Originalzustand zurückversetzte, konnte Tallon auch die Wirkung von mittelalterlicher Musik rekonstruieren. Was bei seinen Klangforschungen herauskam und wie die mittelalterlichen Architekten Baufehler behoben, lesen Sie ausführlich in der aktuellen bild der wissenschaft.