Beim Menschen bestimmen vor allem Uhren-Gene den Tagesrhythmus, bei Rentieren hingegen wird der Takt der Körperfunktionen durch das Lichtangebot gesteuert. Zwar beeinflusst auch bei den Hirschen aus dem hohen Norden das Schlafhormon Melatonin die Ruhe- und Aktivitätsphasen, doch dessen Produktion wird nur durch den Hell-Dunkel-Zyklus beeinflusst, wie jetzt englische Forscher herausgefunden haben. Dieser Mechanismus dürfte eine Anpassung an das Leben im hohen Norden sein, wo es die meiste Zeit des Jahres entweder ständig Nacht oder ständig Tag ist. So gönnen sich die Rentiere beispielsweise im Polarsommer nur kurze Schlafphasen, schreiben die Forscher um Weiqun Lu von der Universität Manchester.
Bei Säugetieren steigt in der Dämmerung die Melatonin-Konzentration im Körper an, wodurch Müdigkeit ausgelöst wird. Zusätzlich zeigt aber die Melatonin-Produktion auch bei Abwesenheit eines Licht-Dunkelheit-Zyklus tageszeitliche Schwingungen in ungefähr einem 24-Stunden-Rhythmus. Das Licht dient dieser inneren Uhr zur Synchronisation und verhilft ihr zu einer besseren Genauigkeit, sie funktioniert aber auch unabhängig davon. Nicht so bei den Rentieren, wie die Forscher festgestellt haben: Bei ihnen wird die Melatonin-Produktion und damit das Muster von Ruhe und Aktivität nur vom Licht-Dunkelheit-Zyklus bestimmt.
Um dem Antrieb des Tagesrhythmus der Tiere auf die Spur zu kommen, maßen die Wissenschaftler bei ihnen die Melatonin-Konzentration im Blut, während die Hirsche unterschiedlichen Lichtverhältnissen ausgesetzt wurden. Dabei entdeckten die Forscher, dass die Produktion dieses Hormons und damit die innere Uhr der Tiere sehr sensitiv auf das Lichtangebot reagiert. So wiesen sie bei andauernden hellen Verhältnissen ? wie sie während des Polarsommers auftreten ? einen permanent tiefen Melatonin-Spiegel auf.
Eine solche Steuerung macht durchaus Sinn: „Herkömmliche innere Uhren sind natürlich ein Nachteil in einem Lebensraum, in dem während eines großen Teils des Jahrs keine ausgeprägten Licht-Dunkelheit-Zyklen vorkommen“, erklärt Studien-Co-Autor Andrew Loudon. So kann im Polarsommer 24 Stunden am Tag nach Nahrung gesucht werden und die Helligkeit optimal ausgenützt werden. Das hatte auch eine Senderüberwachung von Rentieren in einer früheren Studie bestätigt. Danach fehlt den Rentieren während des Polarsommers eine eigentliche Nachtruhe, stattdessen wechseln sich Ruhe- und Aktivitätsphasen in kurzer Folge ab. Die Steuerung der inneren Uhr ausschließlich über das Lichtangebot war bei Säugetieren bisher unbekannt. Die Forscher vermuten nun, dass ähnliche Muster als Anpassung an die extremen Lichtbedingungen auch in anderen arktischen Tierarten vorhanden sein könnten.
Weiqun Lu (Universität Manchester) et al.: Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2010.01.042 ddp/wissenschaft.de ? Thomas Neuenschwander