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Stress kennt keine Rücksicht

Erde|Umwelt Gesellschaft|Psychologie

Stress kennt keine Rücksicht
In existenziellen Situationen verliert der Mensch sein Sozialverhalten. Bekommt der Instinkt aber Zeit zum Abebben, entsteht Rücksichtnahme. Das hat ein Forscherteam bei der statistischen Auswertung der Passagierlisten der gesunkenen Luxusliner Titanic und Lusitania herausgefunden. Beim schnellen Untergang der englischen Lusitania im Zweiten Weltkrieg verschaffte sich die Altersstufe zwischen 16 bis 35 Platz in den Rettungsbooten, beim langsameren Sinken der Titanic erhielten dagegen Frauen den Vortritt. Die aus dem Datenbestand erarbeitete Überlebensformel widerspricht gängigen Wirtschaftstheorien: Sie gehen davon aus, dass Menschen generell selbstsüchtig handeln, beeinflusst durch äußere Bedingungen.

Um die Interaktion von natürlichem Überlebensinstinkt und eingeprägten Sozialnormen zu untersuchen, wählten die Wissenschaftler um Bruno S. Frey von der Universität Zürich zwei vergleichbare Situationen, bei denen es um Leben und Tod ging. Die Titanic kollidierte am 14. April 1912 mit einem Eisberg und sank in 160 Minuten. Von den 2.207 Menschen an Bord starben 1517. Die RMS Lusitania wurde am 7. Mai 1915 von einem deutschen U-Boot torpediert und ging in 18 Minuten unter. Von den 1.949 Passgieren und Crew-Mitgliedern verloren 1.198 ihr Leben. Aus zahlreichen historischen Quellen wurden Geschlecht, Alter und Nationalität der Passagiere ermittelt sowie der gezahlte Preis für die Schiffspassage und die gebuchte Klasse. Daraus entstand eine Formel, die für einen typischen Passagier die Überlebenswahrscheinlichkeit vorhersagt.

Obschon beide Kapitäne das Motto ?Frauen und Kinder zuerst? ausgaben, wurde nur auf der Titanic Rücksicht genommen: Die Überlebenschance von Frauen war um 48,3 Prozent höher, die von Kindern lag um 14,8 Prozent über der von Erwachsenen. Auch die Begleitpersonen von Minderjährigen hatten eher das Glück, in einem der Rettungsboote aufgenommen zu werden. Und während auf der Titanic sogar Erste-Klasse-Passagiere Vorrechte eingeräumt bekamen, spielten auf der Lusitania Standesunterschiede oder soziale Kriterien keine Rolle: Hier setzen sich generell die kräftigen 16- bis 35-jährigen Menschen durch. Frauen hatten beispielsweise eine nur um 10,4 Prozent erhöhte Überlebenschance.

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass in der plötzlichen Katastrophe der Lusitania die sogenannte Fight-or-Flight-Reaktion (Kampf oder Flucht) dominierte: In Gefahrensituationen veranlasst das Gehirn die Freisetzung von Adrenalin, das zur Überlebenssicherung sofort Herzschlag, Muskelanspannung und Atmungsfrequenz erhöht. Erst wenn nach wenigen Minuten die Selbstregulation einsetzt und der Mensch gelassener wird, regiert wieder das in der Großhirnrinde verortete Bewusstsein über den Instinkt. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung sprechen dafür, dass die Dauer des Untergangs der Luxusliner die unterschiedlichen Verhaltensweisen erklärt. Allerdings schließen die Wissenschaftler nicht aus, dass weitere Faktoren existieren, die erst durch weitere Katastrophenanalysen bewertet werden können. So spiele etwa die Konstruktion eines Schiffs eine bestimmende Rolle bei der Evakuierung.

Bruno S. Frey (Universität Zürich) et al.: PNAS, doi: 10.1073/pnas.0911303107 ddp/wissenschaft.de ? Rochus Rademacher
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