In fremden Umgebungen huschen Mäuse scheinbar planlos und hektisch umher, doch die Drehungen und verschlungenen Bewegungsmuster haben einen tieferen Sinn: Ein israelisch-kanadisches Forscherteam hat anhand von Bewegungsanalysen herausgefunden, dass die kleinen Nager immer wieder zu einem festen Punkt zurückkehren. Diese imaginäre Anlaufstelle bauen die Tiere zu einer Landmarke aus für die präzise Orientierung. Die eingeschlagenen Pfade dienen dabei einzig dem Ziel, die Interpretation der ungewohnten Szenerie durch neue Blickwinkel abzusichern.
Bekannt war bisher, dass Mäuse sich als Bezugspunkte markante Objekte oder ihr Nest wählen, die Erkundung unbekannter Umgebungen galt als zufallsgesteuert. Auf die Spur des hochorganisierten Verhaltens kamen die Wissenschaftler um Ilan Golani von der Tel Aviv University nun mit einer präzisen Bewegungsmessung. Die Mäuse rannten 55 Minuten lang in einer völlig leeren Arena mit einem Durchmesser von 2,20 Meter Durchmesser umher. Die Windungen und Richtungswechsel wurden gefilmt und mit einem selbst programmierten Computerprogramm ausgewertet. Die Analyse ergab ein überraschend einheitliches Bild: Regelmäßig kehrten sie zu einem Referenzpunkt in dem Rund zurück, der sich in der Visualisierung als ein Knoten der Weglinien darstellt.
Die Landmarke lag zudem bei allen Mäusen im gleichen Segment, nämlich nahe der Stelle, wo sie in den Kreis freigelassen wurden. Von dem Fixpunkt aus verschafften sich die Tiere immer wieder einen Überblick: Mit der Wiederkehr und einem schnellen Rundblick durch mehrere Körperdrehungen verfeinerten sie quasi ihre geistige Karte und richteten ihren “Kompass” für weitere Expeditionen erneut aus. Das Experiment wurden mit zwei Testgruppen durchgeführt: Dem einen Mäuse-Team wurde vor dem Versuch eine Salzlösung gespritzt, was zu Stress führte, der wiederum die Festlegung der Referenzlokalität beschleunigte. Aber auch die vierbeinigen Probanden, die nicht künstlich unter Stress gesetzt wurden, erliefen sich Knoten ? wenn auch mit etwas mehr Gelassenheit.
Die Methoden der Umgebungserfassung lassen Schlüsse zu auf das Verhalten von Menschen und Tieren. Entsprechend wird die Fähigkeit zur Navigation in Medizin und Biologie als Modell eingesetzt, um die Schnittstelle zwischen Verhalten, Gehirn, Genetik und Medikamenten zu untersuchen. Hier sehen die Wissenschaftler auch den konkreten Nutzen der entschlüsselten Erkundungstechnik der Mäuse: Nachdem nun feststeht, wie sich gesunde Tiere bei der Erkundung unbekannten Terrains verhalten, lässt sich beurteilen, wie Medikamente oder genetische Manipulationen diese Handlung verändern.
Ilan Golani (Tel Aviv University) et al.: PLoS Computational Biology, doi:10.1371/journal.pcbi.1000638 ddp/wissenschaft.de ? Rochus Rademacher