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Auf Neutrinofang im Ewigen Eis

Astronomie|Physik

Auf Neutrinofang im Ewigen Eis
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Eines der energiereichsten Neutrinos aus dem Weltall, das der IceCube-Detektor gemessen hat. (Foto: DESY, IceCube Collaboration)
Am Südpol erhaschen Physiker flüchtige Spuren extragalaktischer Energieschleudern – und starten einen neuen Zweig der Astronomie.

An einem der kältesten Orte der Erde geht es besonders heiß zu: im Eis am geografischen Südpol. Dort hat ein internationales Forscherteam im Verlauf mehrerer Jahre den größten Neutrinodetektor der Welt errichtet – IceCube. Mit seiner Hilfe stießen die Physiker jetzt ein neues Fenster zum Kosmos auf. Erstmals entdeckten sie – für viele Wissenschaftler völlig unerwartet – Neutrinos mit Energien, die alles bisher Gemessene um viele Größenordnungen übertreffen. Diese fast lichtschnellen Elementarteilchen müssen zumindest teilweise aus Millionen Lichtjahre fernen Teilen des Weltalls stammen. Sie zeugen von vehementen Energiegewittern – und die Forscher rätseln, was ihre Quelle sein könnte.

„Das ist der Beginn einer neuen Epoche der Astronomie”, sagt Francis Halzen. Der Physiker von der Universität von Wisconsin in Madison ist IceCube-Projektleiter. Jetzt erntet er die Früchte seiner jahrelangen Bemühungen, den Bau dieses ungewöhnlichen Detektors zu finanzieren und zu realisieren. „Wir haben die ersten Indizien für sehr hochenergetische Neutrinos außerhalb des Sonnensystems gefunden – mit Energien von mehr als dem Millionenfachen der Supernova von 1987 in der Großen Magellan’s chen Wolke.”

Diese Neutrinos, die kurz vor der Explosion eines Blauen Riesensterns in unserer Nachbargalaxie freigesetzt wurden, sind bislang die einzigen, die nicht von der Sonne oder der Erde stammen. Daher ist es nicht übertrieben, wenn IceCube-Mitglied Markus Ackermann vom Forschungszentrum DESY in Zeuthen jubiliert: „Wir erleben gerade die Geburtsstunde der Neutrinoastronomie.”

Das größte Experiment aller Zeiten

IceCube ist vom Volumen her das größte physikalische Experiment aller Zeiten. So gesehen sind die 270 Millionen Dollar, die das Projekt insgesamt gekostet hat – 20 Millionen davon kommen aus Deutschland – nicht viel. Denn das Nachweismaterial liefert ausnahmsweise einmal die Natur selbst: ein Kubikkilometer reines Eis, das Ergebnis eines 100 000-jährigen Schneefalls. Darin erzeugen die fast masselosen, mit Materie nur schwach wechselwirkenden Neutrinos charakteristische feine Lichtblitze, wenn sie an Elektronen gestreut werden. Diese Blitze können die Wissenschaftler mithilfe von 5160 Photomultipliern registrieren. Und die haben sie an 86 vertikalen Kabelsträngen in 1450 bis 2450 Meter Tiefe im Abstand von 125 Metern so im Eis versenkt, dass sie eine hexagonale Gitterstruktur aus gleichseitigen Dreiecken bilden (siehe Grafik auf S. 30).

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Über 250 Forscher von 40 Institutionen in 11 Ländern sind an IceCube beteiligt. Aus Deutschland mischen Forscher vom DESY mit sowie von den Universitäten Aachen, Berlin, Bonn, Dortmund, Mainz, München und Wuppertal. IceCube misst rund um die Uhr. 90 Gigabyte an Daten werden täglich via Satellit zur Auswertung übertragen.

Inzwischen hat das IceCube-Team 998 Tage Messzeit ausgewertet. Die Analyse ist sehr aufwendig: Jährlich registriert der Detektor rund 100 000 Neutrinos, wobei etwa die Hälfte von „unten” kommt – also von der nördlichen Himmelssphäre – und die ganze Erde glatt passiert hat. Diese Neutrinos, wie auch fast alle von „oben” kommenden, entstehen aus der Wechselwirkung der Kosmischen Strahlung mit Atomen der Erdatmosphäre. IceCube kann nur hochenergetische Neutrinos mit Energien oberhalb von etwa zehn Gigaelektronenvolt nachweisen und ist daher für die Myriaden niederenergetischer Sonnenneutrinos „blind”.

IceCube misst allerdings nicht nur Neutrinos, sondern insgesamt rund 85 Milliarden Ereignisse jährlich, die auf den Einfluss der Kosmischen Strahlung zurückgehen. Sie erzeugen Störsignale, die herausgerechnet werden müssen – hauptsächlich von Myonen, den schweren Geschwistern der Elektronen. „Das ist eine schmerzhafte Beeinträchtigung der Neutrinosuche, aber eine Goldmine für die Physik der Kosmischen Strahlung”, bringt Francis Halzen die Zweischneidigkeit auf den Punkt.

Die Forscher erwarteten zunächst ein diffuses Signal kosmischer Neutrinos innerhalb des „Untergrunds” atmosphärischer Neutrinos, und dann gewisse Häufungen darin, sodass sie einige Jahre später vielleicht deren Quellen am Himmel lokalisieren könnten. Doch die Entwicklung lief genau umgekehrt: Das diffuse Signal haben die Wissenschaftler erst vor wenigen Monaten nachgewiesen – aber bereits 2012 fielen ihnen zwei starke Signale auf, als sie die Daten seit 2010 durchsahen. Die Signale hatten ein regelrechtes Feuerwerk in der empfindlichen Elektronik der Photomultiplier tief im antarktischen Untergrund hinterlassen. Beide Ereignisse besaßen eine Energie von über einem Petaelektronenvolt (1015 Elektronenvolt).

Ernie und Bert

Die Forscher tauften sie spaßeshalber Ernie und Bert, nach den beliebten Figuren aus der Kinderfernsehserie Sesamstraße. Und sie beschlossen, auffällige Signale fortan nach weiteren Stoffpuppen zu benennen, nicht nur aus der Sesamstraße, sondern auch aus der Muppet Show. Nicht jeder findet das lustig – und in den wissenschaftlichen Fachartikeln verwenden Forscher lieber die schnöde Abkürzung HESE (für „High Energy Stating Event”) und eine Nummer. „Ich selbst bin ein großer Fan der Puppennamen, auch weil es Frauennamen darunter gibt und sie viele unterschiedliche Typen repräsentieren”, sagt Laura Gladstone von der Universität von Wisconsin.

Nach Ernie und Bert haben die Wissenschaftler 26 weitere Ereignisse im etwas schwächeren Energiebereich von 30 bis 250 Teraelektronenvolt (1012 Elektronenvolt) aufgespürt. Als sie die bis dahin 28 Signale aus den ersten beiden Jahren Messzeit im November 2013 im Fachblatt Science veröffentlichten, wurde ihr Artikel kurz darauf zum „Durchbruch des Jahres” in der Physik gekürt. Doch noch reichte die Statistik nicht ganz aus, um die Voraussetzung für eine Entdeckung in der Physik zu erfüllen: 5 Sigma oder eine statistische Sicherheit von 1 zu 3,3 Millionen. Das heißt: Die 28 Ereignisse hätten noch immer aus dem atmosphärischen Neutrinountergrund stammen können.

Ein großer Vogel

Fieberhaft machte sich das IceCube-Team an die Auswertung eines weiteren Jahres ihrer Datensammlung. Und wieder stießen die Forscher auf hochenergetische Ausreißer – insgesamt waren es neun. Einer davon, den die junge Physikerin Lisa Gerhardt am Lawrence Berkeley National Laboratory fand, wurde „Big Bird” genannt. Mit rund zwei Petaelektronenvolt markiert er das energiereichste bekannte Neutrino aller Zeiten. Zum Vergleich: Beim Large Hadron Collider am CERN, dem leistungsfähigsten Teilchenbeschleuniger überhaupt, waren bislang lediglich acht Teraelektronenvolt an Kollisionsenergie zweier Protonen möglich – ein 250stel von Big Bird.

Mit diesen nun insgesamt 37 Ereignissen über 30 Teraelektronenvolt sprengten die Forscher das Limit der statistischen Signifikanz: 5,7 Sigma. Technisch formuliert: Auch wenn 8,8 plus/minus 4,2 der Ereignisse durch Myonen und 5 bis maximal 13 durch atmosphärische Neutrinos erzeugt sein könnten, sind mindestens ein Dutzend der hochenergetischen Neutrinos Botschafter aus den Tiefen des Alls. Doch was hat sie losgeschickt?

Als Neutrinoquellen kommen viele Objekte und Prozesse im Weltall in Betracht. Astrophysiker haben bereits mehrere Hundert Fachartikel dazu publiziert. Wobei neben der Frage nach dem Woher – Eine Quelle oder viele? Galaktisch oder extragalaktisch? – auch die nach dem Wodurch beantwortet werden muss: Wodurch wurden die Partikel beschleunigt, aus deren Zerfall oder Umwandlung die Neutrinos überhaupt erst entstehen?

Als galaktische Quellen kommen hauptsächlich Supernova-Überreste und Pulsarwindnebel infrage, also die Relikte von Sternexplosionen. Doch aus der Richtung des Crab-Pulsars, der eine besonders starke, weil junge und nahe Neutrinoquelle sein sollte, wurde bislang nichts gemessen. Auch die Wechselwirkung der Kosmischen Strahlung mit dem Interstellaren Medium, also den Atomen zwischen den Sternen, scheidet als Quelle aus: Die Neutrinos, die dabei entstehen, haben höchstens ein Hundertstel der Energie von Ernie und Bert.

An extragalaktischen Kandidaten mangelt es ebenfalls nicht. Manche Forscher hatten Starburst-Galaxien favorisiert. Sie sind durch eine hohe Sternentstehungsrate gekennzeichnet und enthalten viele Supernova-Überreste. Neuere Modellrechnungen zeigten jedoch, dass deren Beschleunigungskraft wohl nicht ausreicht, um die gemessenen Neutrinoenergien zu erklären. Auch Hypernovae beziehungsweise Gammastrahlen-Ausbrüche sind inzwischen keine überzeugenden Kandidaten mehr, weil IceCube keine zeitliche Koinzidenz mit solchen gigantischen Sternexplosionen in fernen Galaxien aufgespürt hat. Infrage kommen weiterhin Galaxienkollisionen sowie energiereiche Prozesse in der Umgebung von supermassereichen Schwarzen Löchern. Spekulationen über exotische Quellen sind ebenfalls noch nicht vom Tisch – etwa der Zerfall unbekannter Elementarteilchen, aus denen die Dunkle Materie im All bestehen soll, oder die Wechselwirkung hypothetischer Partikel namens Leptoquarks.

„Der Ursprung der hochenergetischen Neutrinos ist ein neues Rätsel der Astroteilchenphysik”, sagt Kohta Murase vom Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey. „Sehr wahrscheinlich ist er extragalaktisch, auch wenn vielleicht einige galaktische Neutrinos dabei sind.”

Spuren Schwarzer Löcher?

Leider ist IceCubes Winkelauflösung relativ schlecht. Nur 20 Prozent der Neutrinos ließen sich auf unter ein Grad lokalisieren, weil ihre Spuren im Detektor mit Myonen einhergingen, die ein sehr genaues Signal erzeugen. Die anderen Ereignisse wurden lediglich auf 15 Grad genau bestimmt. So lange nicht mehr Partikel gemessen sind, lässt sich ihr Ursprungsort nicht identifizieren.

Immerhin ist bereits klar, dass die Verteilung am Himmel recht gleichförmig ist. Daraus folgt, dass mindestens ein Teil der Neutrinos nicht aus der Milchstraße stammt, sondern extragalaktischen Ursprungs ist – sonst würden sie in der galaktischen Ebene gehäuft auftreten. Um sie einer bekannten Quelle im All zuzuordnen, sind die Daten statistisch nicht signifikant, wie die IceCube-Forscher betonen.

Allerdings ergab eine Analyse von Sarira Sahu und Luis Salvador Miranda an der Staatlichen Universität von Mexiko, dass 7 der 37 energiereichen Neutrinos grob aus der Richtung des Galaktischen Zentrums stammen und weitere 10 Ereignisse mit der Position von 9 Blazaren und der Aktiven Galaxie Centaurus A vereinbar sind.

Blazare gehören zu den Aktiven Galaktischen Kernen. Sie werden vom Einsturz gewaltiger Gas- und Staubmengen gespeist, die in ein supermassereiches Schwarzes Loch hineinstrudeln. Ein solches Gravitationsungetüm befindet sich auch in Centaurus A sowie im Galaktischen Zentrum, wo es aber ruhiger zugeht. Und die Position des Blazars H2356–309 ist gleich mit drei IceCube-Ereignissen vereinbar. •

 

RÜDIGER VAAS, Astronomie- und Physik-Redakteur von bild der wissenschaft, ist Autor mehrerer Bücher zur Teilchen- physik und Kosmologie.

Quellen der Neutrinos

Neutrinos entstehen ausschließlich bei Prozessen, an denen die Schwache Wechselwirkung beteiligt ist. Seit die Existenz der Neutrinos 1930 theoretisch von Wolfgang Pauli vorausgesagt wurde und 1956 dann Clyde L. Cowan, Frederick Reines und ihren Mitarbeitern der erste experimentelle Nachweis mithilfe von Kernreaktoren gelang, haben Physiker diverse Quellen von Neutrinos gefunden:

· Kernreaktionen in physikalischen Experimenten

· Kernreaktionen in Kernkraftwerken

· Kernreaktionen beim radioaktiven Zerfall bestimmter Elemente im Erdinneren: Diese Neutrinos wurden kürzlich erstmals nachgewiesen (siehe „Botschaften aus dem Erdinneren” ab S. 40).

· Kernreaktionen bei der Kollision von Partikeln der Kosmischen Strahlung mit Atomen in der Erdatmosphäre

· Kernfusionsprozesse im Zentrum der Sonne

· Supernovae: Bislang wurden nur von einer dieser Sternexplosionen Neutrinos gemessen – von SN 1987A in der Großen Magellan‘schen Wolke.

· Neutrinos von Kernreaktionen in brachialen Stoßfronten in der Milchstraße und in anderen Galaxien: Dazu gehören Hypernovae, Supernova-Überreste und Akkretionsscheiben um Schwarze Löcher, die besonders turbulent in den Zentren Aktiver Galaxien vorkommen. Solche Neutrinos hat der IceCube-Detektor kürzlich erstmals aufgespürt.

· Neutrinos vom Urknall: Sie fliegen noch heute überall durch den Weltraum, sind aufgrund ihrer geringen Energie aber bislang nicht direkt messbar. Allerdings haben sie subtile indirekte Spuren in der Temperaturverteilung der Kosmischen Hintergrundstrahlung hinterlassen, die nachgewiesen sind (bdw 9/2009, „Geisterteilchen All-überall”).

Gut zu wissen: Neutrinos

Dem Standardmodell der Materie zufolge gibt es drei Sorten („ Flavors”) von Neutrinos: das Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino. Sie sind gleichsam die Vettern des Elektrons und seiner schweren Geschwister Myon und Tauon. Mit ihnen zusammen werden sie zu den Leptonen gezählt. Im Gegensatz zu diesen sind Neutrinos aber nicht elektrisch geladen und unterliegen daher auch nicht der Elektromagnetischen Kraft. Alle Leptonen sind Elementarteilchen und bilden zusammen mit den Quarks die bekannte gewöhnliche Materie.

Wie jedem anderen Materieteilchen entspricht auch jedem Neutrino ein Antiteilchen. Diese Antielektron-, Antimyon- und Antitau-Neutrinos werden in der Alltagssprache der Physiker oft ebenfalls schlicht als Neutrinos bezeichnet. Möglicherweise sind Antineutrinos und Neutrinos sogar identisch – dann wären Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen. Unbekannt ist auch, ob es noch weitere Neutrinos gibt, etwa „rechtshändige Neutrinos” (bezogen auf ihren Spin) oder „Sterile Neutrinos”, die nicht der Schwachen Wechselwirkung unterliegen, aber von spekulativen Erweiterungen des Standardmodells vorhergesagt werden.

Kompakt

· Der IceCube-Detektor in der Antarktis hat erstmals hochenergetische Neutrinos aus dem All gemessen.

· Sie zeugen von brachialen Prozessen weit außerhalb der Milchstraße – zum Beispiel aus der Umgebung supermassereicher Schwarzer Löcher.

© wissenschaft.de – Rüdiger Vaas
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