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„Dreckträger“ im Bernstein

Astronomie|Physik Erde|Umwelt

„Dreckträger“ im Bernstein
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Florfliegenlarve in 100 Millionen Jahre altem Bernstein (Foto: Wang et al. Sci. Adv. 2016; 2 : e1501918)
Einige Krebse tun es, Spinnen, Schnecken und auch Insekten: Sie tarnen sich mit Hilfe von Dreck, den sie geschickt auf ihrem Rücken platzieren. Wie weit diese raffinierte Tarnstrategie bei den Insekten schon zurückreicht, haben Forscher nun anhand von Funden in Bernstein herausgefunden. Bei ihrer systematischen Suche entdeckten sie 39 Larven und Jungtiere verschiedener Insektengruppen, die schon vor rund 100 Millionen Jahren Pflanzenreste, Sand und sogar die Häute anderer Insekten zu ihrer Tarnung genutzt haben.

Unter den heutigen Insekten sind vor allem die Larven der Florfliegen (Chrysopidae) und die Jugendstadien von Raubwanzen (Reduviidae) für ihre „Dreck“-Tarnung bekannt. „Dieses Abfall-Tragen gehört zu den faszinierendsten und komplexesten Verhaltensweisen“, erklären Bo Wang von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Nanjing und seine Kollegen. „Denn es erfordert zum einen die Fähigkeit, geeignete Materialien zu erkennen, sie einzusammeln und zu tragen, zum anderen sind dafür evolutionäre Anpassungen des Äußeren nötig.“ Häufig besitzen diese Insekten einen besonders flachen Rücken, auf dem lange Borsten den dort platzierten Abfall festhalten. Manchmal bilden diese Rückenborsten sogar eine Art Korb. Der Zweck dieser Tarnung liegt auf der Hand: Die Insektenlarven passen sich damit an den Untergrund an und werden so für ihre Fressfeinde unsichtbar. Gleichzeitig wirkt der umhergetragene Dreck wie ein schützender Panzer. Gerade bei Florfliegen und Raubwanzen hat die Tarnstrategie aber noch einen anderen, raffinierten Grund: „Diese Anpassung fungiert als eine ‚Wolf-im-Schlafspelz‘-Strategie“, erklären Wang und seine Kollegen. Diese räuberischen Insekten nutzen Panzerreste und Haut ihrer Beutetiere, um sich, in Aussehen und Geruch getarnt, unerkannt nähern zu können.

39 „Dreckträger“ aus der Kreidezeit

Doch so verbreitet dieses Verhalten heute unter Insektenlarven ist, so unklar war bisher, wie lange es diese Strategie in dieser Tiergruppe bereits gibt. „Bisher existiert nur ein einziges mesozoisches Beispiel, aus einem Stück spanischem Bernstein“, berichten die Forscher. Dabei handelt es sich um eine 2012 entdeckte 110 Millionen Jahre alte Florfliegenlarve. „Über die frühe Evolution dieses komplizierten Verhaltens und seine Anatomie war daher wenig bekannt.“ Um das zu ändern, haben Wang und seine Kollegen für ihre Studie systematisch mehr als 300.000 in Bernstein konservierte Insekten erneut überprüft. Bei 39 Bernsteinstücken aus Frankreich, Myanmar und dem Libanon wurden sie fündig: Sie enthielten drecksammelnde Larven von Florfliegen, Ameisenjungfern und Raubwanzen, die bereits rund 100 Millionen Jahre alt sind und daher aus der mittleren Kreidezeit stammen. „Damit gehören sie zu den frühesten direkten Belegen für dieses Tarnverhaltens in der Fossilgeschichte“, konstatieren die Forscher.

Unter den neu entdeckten „Müllträgern“ sind zwölf verschiedene Florfliegenlarven mit teilweise einzigartigen, bei heutigen Insekten unbekannten Anpassungen, wie die Paläobiologen berichten. So tragen einige der stark abgeplatteten Larven ähnlich wie das schon zuvor in Spanien entdeckte Exemplar extrem lange Seitenborsten auf dem Rücken, die den darauf angehäuften Dreck wie ein sehr hoher Korb umgeben. Eine der fossilen Larven hatte zu Lebzeiten mehrere abgelegte Panzer anderer Insekten auf ihrem Rücken drapiert, darunter von einem Blattfloh und einer Rindenlaus. „Es ist wahrscheinlich, dass diese Larve ähnlich wie einige heutige Vertreter, die Reste ihrer eigenen Beute auf dem Rücken trägt“, erklären Wang und seine Kollegen.

Unerwartet alt

In 20 weiteren Bernsteinklumpen entdeckten die Forscher urzeitliche Ameisenlöwen, Larven der zu den Netzflüglern gehörenden Ameisenjungfern (Myrmeleontidae). Heute sind viele dieser Larven dafür bekannt, dass sie Trichter in sandigen Boden graben und dort auf hineinfallende Beute lauern. Doch in der Kreidezeit nutzten offenbar viele Ameisenlöwen auch die Tarnung-durch-Dreck-Strategie, wie sich nun zeigt. „Diese Larven enthüllen, dass dieses Verhalten bei den Ameisenjungfern schon evolutionär alt ist und bereits in der mittleren Kreidezeit etabliert war“, so die Forscher. Die Larven trugen dafür eine dichte Matte aus Borsten auf ihrem Rücken, die Sandkörner, Rindenstückchen und Blattreste auf ihrem Rücken festhielten. „Wahrscheinlich sammelten die Larven jedes Stück einzeln ein und platzierten es dann mit ‚Bedacht an einer freien Stelle ihres Rückens“, erklären die Wissenschaftler. „Dabei profitierten sie von der Fähigkeit, ihr Bein um mehr als 180 Grad in der Hüfte drehen zu können.“

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Völlig unerwartet war der Fund von drei Raubwanzen-Nymphen im kreidezeitlichen Bernstein. Denn die bisher ältesten Funde dieser Wanzengruppe stammten aus dem frühen Paläogen – und sind damit gut 40 Millionen Jahre jünger. Überraschend auch: Eine der fossilen Raubwanzen gehörte bereits zu einer höheren Entwicklungsstufe dieser Insekten. „Das deutet auf eine unerwartet frühe Diversifizierung der Raubwanzen schon in der frühen Kreidezeit hin“, so die Forscher. Alle drei Raubwanzen-Nymphen tragen Pflanzenreste und Bodenpartikel auf dem Rücken, dessen Borsten für eine Verankerung dieser Tarnung sorgen.

Nach Ansicht der Forscher demonstrieren diese Funde, dass die Strategie der Tarnung durch Dreck schon vor gut 100 Millionen Jahren unter den Insekten verbreitet war. „Diese urzeitlichen Insekten haben dieses komplexes Verhalten auf unterschiedlichen Wegen und unabhängig voneinander entwickelt“, sagen Wang und seine Kollegen. „Und jede Gruppe hat dabei ihren typischen Bauplan auf einzigartige Weise modifiziert.“ Die neuen Funde bieten damit einen neuen Einblick in die frühe Evolution dieser faszinierenden und komplexen Tarnungsstrategie der Insekten.

Quelle:

© wissenschaft.de – Nadja Podbregar
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