In ihren Höhlenmalereien dokumentierten unsere Vorfahren viele der Tiere, die ihre damalige Welt prägten. Neben Wildpferden gehören vor allem Bisons zu den typischen Motiven der Felsbilder. Immerhin 820 Darstellungen von Bisons, das entspricht 21 Prozent aller dargestellten Tiere, kommen in diesen steinzeitlichen Gemälden vor, wie Julien Soubrier von der University of Adelaide und seine Kollegen berichten. Doch ein Aspekt dieser prähistorischen Bisonbilder gab bisher Rätsel auf: in den Höhlenmalereien tauchen zwei deutlich voneinander verschiedene Arten der Bisondarstellungen auf: Eine zeigt ein Tier mit langen, geschwungenen Hörnern, einem mächtigen Vorderkörper und vorne deutlich höherer Rückenlinie. Die andere Variante zeigt einen Bison mit kurzen Hörnern, einem schlankeren Körper und einem weniger stark ausgeprägten „Buckel“. „Diese Unterschiede in den Bisondarstellungen wurden bisher als Ausdruck kultureller und individueller Stile interpretiert“, erklären die Forscher. Denn gängiger Lehrmeinung nach gab es bis zum Ende der letzten Eiszeit nur eine einzige Bisonart in Europa: den Steppenbison (Bison priscus). Dieser Vorfahre der amerikanischen Bisons verschwand jedoch am Ende der Eiszeit vor rund 11.700 Jahren relativ plötzlich. Gleichzeitig tauchte, ebenso abrupt und scheinbar aus dem Nichts, der Europäische Wisent (Bison bonasus) auf – so dachte man jedenfalls bisher.
Doch die klaren Unterschiede in den Höhlenmalereien machten die Forscher stutzig. Zwar ähnelte die Langhorn-Variante durchaus dem Steppenbison, die vor allem seit rund 17.000 Jahren immer wieder dargestellten Kurzhorn-Bisons jedoch glichen eher den Wisenten – obwohl diese nach gängiger Lehrmeinung da noch nicht existierten. Soubrier und seine Kollegen beschlossen, diese Lehrmeinung zu überprüfen. Dafür unterzogen sie 64 fossile Bisonknochen aus dem Kaukasus, dem Ural, der Nordsee, Frankreich und Italien einer genetischen Analyse. Sie untersuchten bei den zwischen 50.000 und 14.000 Jahre alten Knochen die mitochondriale DNA – den Teil des Erbguts, der nur über die mütterliche Linie weitergegeben wird.
Rätsel um „Clade X“
Dabei zeigte sich Überraschendes: Bei 38 Knochenproben entsprach die mitochondriale DNA weder der des Steppenbisons, noch der des Europäischen Wisents. Stattdessen schien es sich um eine zuvor unbekannte genetische Linie zu handeln. Diese „Clade X“ getaufte Stammeslinie war zwar mit beiden Bisonarten verwandt, zeigte aber auch klare Unterschiede. „Die genetischen Signale von diesen Bisonknochen waren sehr seltsam“, berichtet Seniorautor Alan Cooper von der University of Adelaide. „Die Datierungen der Knochen enthüllten, dass diese unbekannte Art sich in Bezug auf ihre Dominanz in Europa mehrfach mit dem Steppenbison abwechselte.“ Offenbar dominierte der langhornige Steppenbison immer dann, wenn das Klima etwas milder war, der Clade X-Bison breitete sich aus, wenn kalte Sommer und Tundra-artige Landschaften überwogen.
Worum aber handelte es sich bei den rätselhaften Clade X-Bisons? Um das herauszufinden, führten die Wissenschaftler zusätzliche genetische Untersuchungen durch, bei denen sie die DNA der Knochen nicht nur mit dem Europäischen Wisent und dem Steppenbison vergleichen, sondern auch mit dem Auerochsen (Bos primigenius) – dem einzigen damals noch vorkommenden Wildrind. Diese Analysen bescherten den Forschern die nächste Überraschung: Sowohl das Clade X-Erbgut als auch das der Wisente zeigte Ähnlichkeiten mit der DNA der Auerochsen. „Sowohl die Wisente als auch Clade X sind enger mit den Rindern verwandt als mit dem Bison“, berichten Soubrier und seine Kollegen. Beide tragen bis zu zehn Prozent Auerochsen-Gene in ihrem Erbgut. „Das deutet daraufhin, dass sie auf eine Kreuzung von Steppenbison und Auerochsen zurückgehen.“ Die Forscher gehen davon aus, dass es vor rund 120.000 Jahren zu Paarungen von männlichen Bisons und weiblichen Auerochsen gekommen sein muss. Aus dieser Hybridisierung entstanden die Vorfahren der heutigen Europäischen Wisente, zu denen auch die Bisons vom Typ Clade X gehört haben könnten.
Mit diesen Ergebnissen haben die Forscher gleich zwei Rätsel gelöst: Ihre Gendaten erklären zum einen, wie und wann die Europäischen Wisente entstanden. Diese sind demnach Nachfahren der urzeitlichen Kreuzung von Auerochs und Steppenbison und waren entgegen bisherigen Annahme schon lange vor dem Ende der letzten Eiszeit in Europa präsent. Zum anderen aber erklärt die Existenz von Clade X und den frühen Wisenten, warum die Höhlenmalereien zwei verschiedene Bisonformen zeigen: Unsere Vorfahren ließen nicht ihre Fantasie walten, sondern malten schlicht die Bisonart, die sie zu den verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten vor sich sahen. Der langhornige Steppenbison taucht daher besonders häufig in Felsbildern aus der Zeit vor 22.000 bis 18.000 Jahren auf, der kurzhornige Wisenttyp dagegen dominierte die Bilder in der Zeit zwischen 17.000 und 12.000 Jahren.