Animation des Chicago Field Museums zeigt Hallucigenia auf dem kambrischen Meeresgrund.
Die meisten Fossilien von Hallucigenia stammen aus den Burgess Shale der kanadischen Rocky Mountains. Als sie in den 1970er Jahren erstmals genauer untersucht wurden, standen die Forscher vor einem Rätsel: Den bis zu 3,5 Zentimeter langen Wesen schienen alle Eigenschaften zu fehlen, die eine Zuordnung zu einer der bekannten tierischen Entwicklungslinie ermöglichte. Man nahm deshalb an, Hallucigenia sei ein kurioser Außenseiter der Evolution gewesen, der im Rahmen der sogenannten kambrischen Explosion entstanden war. In dieser Ära hatte die Evolution eine enorme Dynamik entwickelt – die ersten Vertreter der meisten großen Entwicklungslinien der Tiere erschienen auf der Bühne der Entwicklungsgeschichte. Hallucigenia sei in diesem Zusammenhang aber wieder spurlos verschwunden, so die Annahme.
Anfangs waren sich Forscher nicht einmal einig, wo bei diesen Viechern oben und unten und vorn und hinten war. Das führte zu Rekonstruktionen, die nahelegten, sie hätten die stachelartigen Fortsätze als Stützen oder Beine benutzt und mit den Tentakeln Nahrung aufgenommen. Heute ist aber klar: Hallucigenia hatte eine Reihe von starren Stacheln auf dem Rücken, und wandelte auf sieben oder acht Paar Beinen, die in Klauen endeten – genau die wurden dann auch zum Knackpunkt der Studie von Martin Smith und Javier Ortega-Hernandez von der Universität Cambridge.
Klauen weisen auf die Verwandtschaft
Die Forscher blickten mit Mikroskopen gezielt auf die winzigen fossilen Klauen von Hallucigenia und deckten dabei interessante Details auf. Die Strukturen aus hornartiger Substanz waren aufgebaut wie russische Matroschka-Puppen: In der Klaue saß eine kleine Klaue verborgen, in der sich wiederum eine weitere befand. Dieser charakteristische Bauplan wurde zum Beweis für die Verbindung der Hallucigenia mit den heutigen Stummelfüßern (Onychophora). Denn auch bei ihnen findet sich das Matroschka-Prinzip bei den Klauen. Offenbar handelte es sich dabei also um ein Erfolgskonzept, das sie von ihren entfernten Verwandten aus dem Kambrium geerbt haben.
Die Stummelfüßer bilden heute einen eigenen kleinen Tierstamm und lassen sich vereinfacht als Würmer mit Beinen beschreiben. Sie haben einen eigenartig samtiges Äußeres, was ihnen den englischen Namen „Velvet Worms“ eingebracht hat. Sie kommen vor allem in tropischen Wäldern vor, wo sie sich meist von Insekten ernähren. Diese seltsamen Wesen haben also einen Urahn, der noch weit bizarrer war – Hallucigenia. „Es wird oft angenommen, dass die modernen Tiergruppen ihre Grundzüge vollständig während der kambrischen Explosion gebildet haben“, sagt Smith. Doch ihm zufolge belegen die aktuellen Ergebnisse erneut, dass Evolution ein schrittweiser Prozess ist: „Die heutigen komplexen Anatomien entstanden Schritt für Schritt“, so der Forscher.