Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Stille Beben – ein Warnsignal

Erde|Umwelt

Stille Beben – ein Warnsignal
Geowissenschaftler haben eine neue Art von Erdbeben entdeckt. Sie sind so schwach, dass sie sich nur mit modernster Technik aufspüren lassen. Diese „stillen Beben“ können Vorboten von gefährlichen schweren Schlägen sein.

UnGEDULDIG WARTETEN Die Seismologen der University of Washington auf ein Zeichen. Am 15. Januar 2007 war es endlich so weit: Südlich von Seattle, unter dem verzweigten Fjordsystem des Puget Sound, stiegen stundenlang tieffrequente Schwingungen aus der Erde auf. Dieser „Tremor“ wanderte in den folgenden Tagen immer weiter nach Norden, unter der Olympic-Halbinsel hindurch bis nach Vancouver Island. Am 26. Januar meldete der Geologische Dienst von Kanada: Die Erdoberfläche bewegt sich. Die GPS-Stationen an der Flanke der Olympic Mountains hatten ihren Kurs geändert. Anstatt wie üblich mit einer Geschwindigkeit von etwa einem Zentimeter pro Jahr landeinwärts zu kriechen, registrierten die GPS-Empfänger einen schwachen Schub in Richtung Pazifikküste. In zwei Wochen hatten sich die Stationen drei bis fünf Millimeter nach Südwesten verschoben. Auch Neigungsmesser in Shelton im US-Bundesstaat Washington, die winzige Verschiebungen der Erdkruste registrieren, lieferten im Januar auffällige Daten.

Am 2. Februar war das merkwürdige Ereignis vorbei. Der Tremor verstummte. Die GPS-Stationen auf Vancouver Island wanderten wieder, wie gewohnt, nach Osten. Seit etwa fünf Jahren beobachten die Seismologen im Nordwesten der USA und im angrenzenden Kanada alle 13 bis 15 Monate ähnliche Vorgänge unter ihren Füßen. Sie haben dem merkwürdigen Phänomen offiziell den Namen „Episodic Tremor and Slip“ gegeben, übersetzt etwa: episodisches Vibrieren und Gleiten. Die Erdkruste hat offensichtlich ein wesentlich größeres Repertoire an Möglichkeiten, Spannungen abzubauen, als man bislang wusste. Normalerweise wäre das, was sich Anfang 2007 in etwa 25 bis 45 Kilometer Tiefe in der Kaskaden-Subduktionszone ereignete, ein ausgewachsenes Erdbeben gewesen. Unter dem Puget Sound hatte sich ein gut 200 Kilometer breites Stück der Juan-de-Fuca-Platte etwa fünf Zentimeter weiter unter den Nordamerikanischen Kontinent. Würde eine solche Bewegung innerhalb weniger Sekunden ablaufen, entspräche sie einem Beben der Magnitude 6 – also einem Ereignis, dessen Erschütterungen Gebäude zum Einsturz bringen können. Doch weil die Platte gut zwei Wochen für ihren Vorstoß brauchte, entstanden keine zerstörerischen Erdbebenwellen. Solche „stillen“ (oder „langsamen“ ) Erdbeben wurden zuerst Ende der Neunzigerjahre westlich von Japan beobachtet. Im Nankai-Graben, wo sich die Philippinische Platte unter die Eurasische Platte schiebt, spürten Forscher die tieftönenden Vibrationen sowie langsame Krustenbewegungen mit einem Netz hochempfindlicher Instrumente auf.

VERRÄTERISCHE Bohrlöcher

Inzwischen zeigen sich ähnliche Phänomene überall da, wo die Forscher genauer hinhören: In mehreren Bohrlöchern in der Nähe der San-Andreas-Verwerfung registrierten Seismographen beispielsweise tremorartige Vibrationen, die eine knappe halbe Stunde anhielten und aus einer Tiefe von 20 bis 40 Kilometern stammten. Allerdings wurden die Schwingungen nicht von Deformationen an der Erdoberfläche begleitet. Und die gesamte Südflanke des Mauna Loa auf Hawaii – ein Gebiet so groß wie das Saarland – glitt im November 2000 nach einem starken Regenguss innerhalb von 36 Stunden um 8,7 Zentimeter talwärts. Nur GPS-Empfänger bemerkten den Rutsch, der einem regulären Erdbeben der Magnitude 5,7 entsprochen hätte.

Bislang können Seismologen die stillen Erdbeben bloß in solchen Gebieten wahrnehmen, in denen genügend Seismographen und GPS-Empfänger auf der Lauer liegen. Der verräterische Tremor ist selbst für empfindliche Messgeräte nur in der Nähe des Epizentrums messbar. Wegen der niedrigen Intensität müssen die Forscher das schwache Signal mühsam aus dem Rauschen herausfiltern. Und die Verschiebungen der Erdkruste sind so winzig, dass in der Regel mehrere GPS-Stationen nötig sind, um sie zweifelsfrei nachzuweisen. Bislang wurden stille Beben vor allem in Subduktionszonen entdeckt, etwa im Nankai-Graben vor Japan oder im Nordwesten der USA. Dort taucht die jeweilige tektonische Platte in den Erdmantel ab: Sie rutscht mit einer Geschwindigkeit von einigen Zentimetern pro Jahr unter einen Kontinent oder unter eine andere Ozeanplatte.

Anzeige

Die stillen Beben treten unterhalb von 25 Kilometer Tiefe auf – offenbar schiebt sich die Erdkruste während eines solchen Ereignisses langsam für Tage, Wochen oder sogar Monate Millimeter für Millimeter weiter, bis sie endlich wieder zum Stillstand kommt. Dabei produziert die Erde unterschiedliche Geräusche: den lang anhaltenden Tremor, aber auch einzelne Mikrobeben mit extrem langwelligen Schwingungen. Ein Team um Satoshi Ide von der Universität von Tokio wies kürzlich nach, dass der Tremor im Grunde eine Überlagerung vieler dieser Mikrobeben ist.

Den Forschern wird allmählich klar, dass sich stille Erdbeben grundlegend von ihren zerstörerischen Verwandten unterscheiden. „ Die langsamen Beben werden von anderen physikalischen Mechanismen kontrolliert“, stellt David Shelly von der Stanford University fest. Er ist Koautor einer Studie, die in der Fachzeitschrift „ nature“ veröffentlicht wurde. „Bei gewöhnlichen Erdbeben, die ja sehr schnell ablaufen, entscheiden die dynamischen Spannungen – spürbar durch die seismischen Erschütterungen –, wie lang die Bruchzone wird. Bei stillen Erdbeben spielen dagegen statische Spannungen, hervorgerufen von den langsamen Bewegungen der tektonischen Platten, die entscheidende Rolle.“

WASSER ALS SCHMIERMITTEL

Den Unterschied erklärt Shelly damit, dass das Tiefengestein wärmer ist und daher andere physikalische Eigenschaften hat als das Gestein weiter oben. Wahrscheinlich spielt auch Wasser eine Rolle: In der abtauchenden ozeanischen Kruste ist es in Mineralien gebunden, der hohe Druck in der Tiefe quetscht es sozusagen wieder heraus. „Ich vermute, dass dieses unter Druck stehende Wasser eine Art Schmiermittel ist, das die Reibung an der Plattengrenze verringert“, sagt Shelly.

Eine andere Beobachtung bestätigt den exotischen Charakter der stillen Beben: Der Tremor am Puget Sound wird durch Ebbe und Flut beeinflusst, berichteten Justin Rubinstein von der University of Washington und seine Kollegen vor Kurzem im Fachblatt „Science“. Während der letzten drei Episoden verstärkten sich die Vibrationen zweimal am Tag um ein Drittel – immer dann, wenn die Flut kam. Auf gewöhnliche Erdbeben haben die Gezeiten dagegen keinerlei Wirkung, weil die Anziehungskräfte von Sonne und Mond und der Druck des Meerwassers viel schwächer sind als die Spannungen innerhalb der Erdkruste. Richtig erklären können sich die Forscher ihre Beobachtung allerdings nicht: „Wir hatten eigentlich gedacht, dass das steigende Wasser den Tremor dämpfen würde, aber es war genau umgekehrt“, berichtet John Vidale von der University of Washington.

Merkwürdig sind auch Beobachtungen aus Kalifornien. An den Störungszonen dort schieben sich die tektonischen Platten seitlich aneinander vorbei. Stille Erdbeben, also langsame Verschiebungen in der Tiefe, wurden dabei bislang nicht beobachtet, wohl aber der dumpfe Tremor. Ein Team um Joan Gomberg vom Geologischen Dienst der USA in Seattle stellte fest, dass ein starkes Beben der Magnitude 7,8 in Alaska 2002 einige Störungszonen in Kalifornien zum Schwingen brachte. Der Tremor zeigte sich an sieben Stellen, vornehmlich an größeren Verwerfungen wie der San-Andreas-Störung.

Und noch etwas irritiert: Nach der Hypothese, dass Wasser als Schmiermittel wirkt, hatten die Wissenschaftler Vibrationen in der Nähe von Vulkangebieten mit hydrothermalen Quellen erwartet – Fehlanzeige. Es gelang den Forschern auch nicht, gemeinsame Merkmale für die sieben Tremor-Gebiete zu finden. So hatten sie vermutet, dass der Tremor bevorzugt in Übergangszonen zwischen feststeckenden Segmenten und „kriechenden“ Abschnitten der Störungszonen auftreten würde. Doch das wurde bislang nicht bestätigt. „Wir haben nun alle möglichen neuen Fragen dazu, was Verwerfungen in Bewegung versetzt und wie sie sich bewegen“, meint Gomberg etwas ratlos. So harmlos die stillen Beben auf den ersten Blick sind – sie haben die Neugier der Seismologen geweckt. Was ihnen zu denken gibt, ist die Tatsache, dass sie oft am selben Plattengrenzentyp auftreten wie die gefürchteten Megabeben mit einer Magnitude von 8 oder 9. „In Japan liegt die Zone der stillen Erdbeben direkt an dem Teil der Plattengrenze, wo es periodisch zu sehr starken Beben kommt“, berichtet der Geophysiker Greg Beroza von der Stanford University.

STILLER ALARM

„Das bedeutet: Jedesmal wenn sich ein stilles Erdbeben ereignet, erhöht sich die Spannung im festsitzenden Teil – und die Wahrscheinlichkeit für ein Megabeben steigt.“ Im flachen Teil der Subduktionszone haften die beiden Platten in der Regel fest aneinander, während der tiefere Teil der abtauchenden Platte bei den stillen Beben immer weiter in die Tiefe sinkt. So baut sich Spannung auf, die sich alle 100 bis 600 Jahre in einem Megabeben der Magnitude 8 oder sogar 9 – wie beim Tsunami-Beben von Sumatra – entlädt. In der Gegend von Seattle und Vancouver liegt das letzte Riesenbeben etwa 300 Jahre zurück, und Teile der japanischen Westküste ereilt alle 100 bis 200 Jahre ein schwerer Schlag. Die Seismologen um Shelly und Ide hoffen darauf, dass sie die Wahrscheinlichkeit für ein Megabeben dank der lautlosen Vorläufer in Zukunft besser einschätzen können. „Wir könnten die stillen Beben nutzen, um die Spannung an der Plattengrenze zu messen“, sagt Shelly.

Die stillen Beben werden von manchen Geophysikern als Alarmzeichen sehr ernst genommen. So warnten die Seismologen des Geologischen Dienstes von Kanada im Februar 2007 aufgrund des anhaltenden Tremors vor Vancouver Island, dass ein großes Beben in den nächsten zwei Wochen ziemlich wahrscheinlich sei. „ Glücklicherweise blieb das Beben aus“, sagt David Shelly, „aber die Warnung hat die Menschen in der Region immerhin für die Gefahr sensibilisiert.“ ■

Ute Kehse

kompakt

· Während eines stillen Erdbebens verschiebt sich die Erdkruste sehr langsam.

· Dabei wird innerhalb mehrerer Wochen genauso viel Energie frei wie bei einem gewöhnlichen Beben in wenigen Sekunden.

· Das Phänomen tritt oft in Gegenden auf, wo es auch zu schweren Beben kommt.

Ohne Titel

Wenn japan erzittert

Unter der japanischen Insel Shikoku rumorte am 2. September 2005 fast unmerklich die Erde. Die stillen Beben wanderten im Lauf einer halben Stunde nach Südosten. Diese Bewegung ist in der Karte und im Balken darunter farbig codiert: von blau nach rot. Die drei Seismogramme zeigen das schwache Zittern – Geophysiker sprechen vom „Tremor“.

Ohne Titel

Stille Beben sind tief

Vor Vancouver Island taucht die Juan-de-Fuca-Platte unter den nordamerikanischen Kontinent. Im oberen Teil der Subduktionszone sind die beiden Platten ineinander verkeilt und rücken nur während sporadischer Erdbeben weiter. Nach einer Übergangszone folgt in 25 bis 45 Kilometer Tiefe die Zone der stillen Erdbeben: Die Juan-de-Fuca-Platte gleitet hier – wie geschmiert – jedes Jahr um ein paar Zentimeter weiter.

Mehr zu Wissen

Lesen

Zu den stillen Beben gibt es nur Fachartikel: Heidi Houston, John Vidale Relationships in a slow slip Nature Bd. 447, S. 49–50 (2007)

Satoshi Ide u.a. A scaling law for slow earthquakes Nature Bd. 447, S. 76–79 (2007)

David Shelly u.a. Non-volcanic tremor and low- frequency earthquake swarms Nature Bd. 446, S. 305–307 (2007)

Alfred Hirn, Mireille Laigle Silent Heralds of Megathrust Earthquakes? Science Bd. 305, S. 1917–1918 (2007)

Gary Rogers, Herb Dragert Episodic Tremor and Slip on the Cascadia SubducTion Zone Science Bd. 300, S. 1942–1943 (2007)

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

punk|tie|ren  〈V. t.; hat〉 1 jmdn. ~ 〈Med.〉 an jmdm. eine Punktion vornehmen 2 etwas ~ mit vielen Punkten versehen … mehr

Van|car|ri|er  〈[vænkærır] m. 3〉 Steuermaschine zum Transport bzw. Umladen von Containern (z. B. im Hafen); Sy Carrier ( … mehr

An|guss  〈m. 1u; Met.〉 erster Guss, Beginn des Gießens

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige