Bei Kindern mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) entwickelt sich das Gehirn normal, aber zeitverzögert: Viele Hirnregionen reifen im Schnitt drei Jahre später als bei Kindern ohne die Verhaltensauffälligkeiten, haben amerikanische und kanadische Forscher nachgewiesen. Besonders betroffen sind die Regionen, die für die Kontrolle der Aufmerksamkeit, die Steuerung von Bewegungen und die Bewertung von Sinneseindrücken zuständig sind. Dass die Entwicklung lediglich verschoben, aber nicht verändert ist, erklärt nach Ansicht der Forscher, warum sich die Probleme der betroffenen Kinder später auszuwachsen scheinen.
Bei insgesamt 446 Kindern und Jugendlichen untersuchten die Wissenschaftler mit der
Magnetresonanztomographie, wie dick die
Großhirnrinde an insgesamt 40.000 Punkten war. Jedes Kind wurde mindestens zweimal im Abstand von etwa drei Jahren gescannt. Im Fokus stand dabei die Frage, wann die Großhirnrinde die maximale Dicke erreichte, ein Zeitpunkt, ab dem überflüssige Nervenverbindungen im Zuge einer Optimierung des Gehirns wieder abgebaut werden. Die Probanden, deren Alter zwischen dem von Vorschulkindern und jungen Erwachsenen lag, bildeten dabei zwei Gruppen: eine mit diagnostiziertem ADHS und eine gesunde Vergleichsgruppe.
Bei allen Kindern verlief die Reifung des Gehirns im gleichen Muster, sozusagen von hinten nach vorne, ergab die Auswertung. Allerdings erreichten die untersuchten Punkte in den Gehirnen der ADHS-Kinder im Vergleich zur Kontrollgruppe ihre maximale Ausdehnung im Durchschnitt drei Jahre, in manchen Fällen sogar fünf Jahre später. Eine Ausnahme bildete das motorische Zentrum: Es war die einzige Hirnregion, die bei der ADHS-Gruppe früher reifte.
Besonders ausgeprägt war die Verzögerung bei Arealen im vorderen Bereich des Gehirns. Sie sind allgemein zuständig für die höheren Funktionen wie etwa das abstrakte Denken, die Fähigkeit, unpassende Reaktionen unterdrücken zu können oder die Kontrolle der Aufmerksamkeit ? genau den Fähigkeiten also, die bei Kindern mit ADHS häufig beeinträchtigt sind. Besonders interessant sei zudem gewesen, dass sich zwar das Bewegungszentrum sehr schnell entwickelte, die für die Kontrolle von Bewegungen zuständige Region aber eine deutlich verzögerte Reifung zeigte, berichten die Forscher.
Sie wollen nun die genauen genetischen und neurophysiologischen Ursachen der Entwicklungsverzögerung untersuchen. ADHS kommt bei schätzungsweise drei bis zehn Prozent aller Kinder vor und ist gekennzeichnet durch Konzentrationsstörungen, Störungen der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung sowie unterschiedliche weitere Verhaltensauffälligkeiten.
Philip Shaw (National Institute of Mental Health, Bethesda) et al.: PNAS, Online-Vorabveröffentlichung, DOI: 10.1073/pnas.0707741104 ddp/wissenschaft.de ? Ilka Lehnen-Beyel