Schwab verfolgte einen ungewöhnlichen Therapieansatz. Er hatte zunächst untersucht, warum Nervenfasern in den Armen oder Beinen nach einer Verletzung wieder heilen, im Rückenmark und im Gehirn dagegen nicht. Ergebnis: Im Rückenmark bildet sich an den zerstörten Stellen eine Art Narbengewebe, das für Nerven undurchdringlich ist. Offenbar steht der Körper der Heilung selbst im Weg. Schwab fand eine körpereigene Substanz, die das Wachsen der Nervenfasern verhindert: ein Protein namens Nogo. Wenn man diese Hemmung aufhebt, so seine Idee, heilen die Nervenfasern von alleine. Der Neurobiologe entwickelte einen Nogo-Antikörper, der im Tierversuch die Erwartungen erfüllte.
Jetzt ist die erste Phase von Tests an Menschen abgeschlossen – und auch hier hat sich der Ansatz bewährt. Schwab spricht von „sehr guten Resultaten“. Allerdings ging es dabei in erster Linie um die Verträglichkeit des Mittels und um die Dosierung, noch nicht um eine wirkliche Therapie. Der Nogo-Antikörper wurde 52 Frischverletzten direkt ins Rückenmark gespritzt, wobei man die Dosis nach und nach erhöhte. Es zeigten sich keine Nebenwirkungen, was Schwab nach seinen Erfahrungen mit Ratten und Makaken nicht überrascht. Bei der Beurteilung des therapeutischen Erfolgs ist er vorsichtig, weil die Dosis teilweise zu gering und die Patientengruppe sehr heterogen war. Immerhin: „Es gibt Hinweise auf eine positive Wirkung“, sagt Schwab. Bei fast der Hälfte der Patienten sei der Heilungsprozess „viel besser verlaufen“ als bei anderen ohne Antikörper-Therapie.
Schwab konnte die EU von seinem Ansatz überzeugen: Sie übernimmt sieben Millionen Euro der Kosten für die zweite Testphase. Ab diesem Frühjahr werden 180 Patienten in sieben führenden europäischen Paraplegie-Kliniken mit dem Nogo-Antikörper behandelt, zum Beispiel in Heidelberg, Murnau und Bayreuth.
Schwab und seine Kollegen hoffen, dass sich nach vier Wochen bis sechs Monaten eine positive Wirkung einstellt, also Nerven des Rückenmarks nachwachsen und neue, funktionell sinnvolle Schaltkreise aufbauen. Dann muss sich allerdings erst noch zeigen, welche Körperfunktionen die Patienten zurückgewinnen: die Beweglichkeit von Händen, Armen oder Beinen, die Steuerung der Blase oder der Atmung. Und mit den neuen Nervenverbindungen alleine ist es natürlich nicht getan. Wichtig ist auch eine anschließende Reha, weil der Patient erst wieder lernen muss, seinen Körper zu beherrschen.
In diesem Jahr wird Schwab noch mit einer zweiten Studie beginnen. Er hat herausgefunden, dass der Antikörper nicht nur Menschen mit Querschnittslähmung helfen kann, sondern auch Schlaganfall-Patienten. Bei Tierversuchen ließen sich verlorene feine Handfunktionen komplett wiederherstellen. Erstaunlich ist, dass der Zeitpunkt, zu dem die Therapie einsetzt, so gut wie keine Rolle spielt. Ratten reagierten sogar noch sechs Monate nach dem Schlaganfall, einem Viertel ihrer Lebenszeit, auf die Behandlung. Bei einer Querschnittslähmung ist das anders. Hier ist Eile geboten, denn man muss eingreifen, bevor sich das Narbengewebe gebildet hat. Das Zeitfenster schließt sich laut Schwab beim Menschen nach rund 30 Tagen. Der Schauspieler Reeve, der schon 2004 gestorben ist, hätte also von den Erfolgen des Züricher Experten nicht profitiert.