Als der österreich-kanadische Vater der Stressforschung sein heute in aller Welt verbreitetes und vor allem bejammertes Konzept einführte, definierte Hans Seyle den Stress eher einfach als „die unspezifische Antwort des Körpers auf eine Herausforderung“, als „the nonspecific response of the body to any demand“, wie es im englischen Original heißt. Seyle unterschied den Stress von einer emotionalen Erregung oder einer nervösen Anspannung und kam zu dem – aus heutiger Sicht sicher für viele überraschenden – Schluss, dass die Stressreaktion für einen Organismus eine Schutzfunktion übernimmt.
Für Seyle war nicht wichtig, ob ein Reiz als angenehm oder unangenehm empfunden wurde. Für ihn war die Frage wichtig, ob die Intensität des Stress auslösenden Stimulus eine Adaptation erforderte oder notwendig machte. Deshalb bezeichnete Seyle den Stress auch als „allgemeines Anpassungssyndrom“. Natürlich griff niemand dieses umständliche Wortgebilde auf. Dafür stürzte sich die gestresste Welt auf die knackige Silbe, die die physiologische Wissenschaft ihnen geschenkt hatte. Und bald suchte man fleißig nach „Stressfaktoren“ oder „Stressoren“, um über den Leistungsdruck, den Lärm, das Kindergeschrei, die Hitze und was auch immer klagen zu können.
Stress muss nicht krank machen
Das schöne und bald so beliebte Wort Stress meinte im Englischen immer schon so etwas wie Druck und Anspannung. Der Physiologe Walter Cannon hat es bereits 1914 in die Wissenschaft eingeführt, um zu beschreiben, wie Lebewesen auf Alarmsituationen reagieren. Populär wurde Stress aber erst, nachdem Seyle 1936 einen körperlichen Zustand der Belastung damit bezeichnete – und seitdem zeigte sich die hektische Welt voller Stress. Wer von Termin zu Termin hetzte und ständig hinter seinen Verpflichtungen herlief, konnte gar nichts anders denken, als dass Arbeit Stress macht und Stress krank macht.
Heutzutage gibt es T-Shirts mit der Aufschrift: „I hate stress.“ doch bevor man das anzieht, sollte man innehalten und ohne Stress ganz ruhig an die jetzt 80 Jahre alte Idee von Seyle denken: Lebewesen haben sich mit dieser Reaktion einen Schutzmechanismus zugelegt. Tatsächlich – Stress ist kein Krankmacher. Stress ist vielmehr im Gegenteil ein Lebensmittel, wie der Journalist Urs Willmann in seinem 2016 erschienenen Buch zu dem Thema festhält. „Stress ist Teil einer Erfolgsgeschichte“, wie bei Willmann überzeugend zu lesen ist. „Die Stressreaktion dient in Fauna und Flora auf unterschiedliche Weise dazu, das Individuum zu schützen“, was konkret bei einem Schimmelpilz bedeutet, dass er sich durch eine gepflegte Stressreaktion höheren Salzkonzentrationen im Toten Meer anpassen kann.
Das Beste, was im Leben passieren kann
Willmann empfiehlt seinen Lesern außerdem, sich nichts vorzumachen und ehrlich einzugestehen, dass sie Stress lieben. Warum gehen denn so viele Menschen in die Fußballstadien und auf Rummelplätze? Warum ziehen sie jede Form von Spannung einer gepflegten Langeweile vor? Stress trainiert den Körper, stärkt das Immunsystem und erhöht das Denkvermögen, wie die physiologische und medizinische Forschung im Laufe der Jahrzehnte herausgefunden hat. Das führt Willmann zu dem Schluss: „Stress ist das Beste, was uns im Leben passieren kann.“
Auch Seyle das so gesehen und gefragt, wie der Körper diesen Zustand erreicht und wie er dabei genau vorgeht. Seyle ging es erst um die Hormone, die zu einer Stress-Antwort gehören, und dann um einen Weg, mit deren Hilfe Krankheiten zu behandeln. Natürlich, so schränkte er ein, kann Stress auch Krankheiten auslösen, wenn man ihn chronisch erleidet und keine Verschnaufpause einlegen kann. Trotzdem: Maschinen leiden irgendwann unter Materialermüdung, aber tätige Menschen leiden mehr unter fehlenden Herausforderungen und Stressmangel, wie es viele Ältere in ihrem eigentlich lebenslang ersehnten Ruhestand erleben.
Tot ohne Stress
„Die Abwesenheit von Stress führt zum Tod“, wie Willmann viele Erfahrungen zusammenfasst. Das klingt paradox. Denn bekanntlich träumen viele Menschen von einem Paradies. Gemeint ist ein Ort, an dem es keinen Stress gibt. Doch wieso wollen sie dorthin, wo sie nur sterben können? Die Vertreibung aus dem Paradies – das ist das Beste, was den Menschen passieren konnte. Rein in den Stress des Alltags. Er macht uns stärker und stärker.
Wenn uns die Wissenschaftler nur sagen könnten, wie der Körper mit seinem Geist das so gut hinbekommt. Immerhin weiß man seit 80 Jahren, wonach man sucht. Hört der Stress auf, wenn man die Antwort kennt? Oder fängt er dann erst so richtig an?