Mit ihnen begann die große Völkerwanderung: Im 5. Jahrhundert drangen Reiternomaden aus Zentralasien bis weit nach Westen vor. Unter Attila eroberten die von den spätantiken Geschichtsschreibern als „Hunnen“ bezeichneten Krieger weite Teile des Balkans und ließen sich teilweise im Donaugebiet nieder. Von dort fielen sie immer wieder in die angrenzenden weströmischen Provinzen ein, zeitweilig zogen Attilas Reiterkrieger sogar bis nach Italien. „Diese Angriffe galten als der Auslöser für eine Destabilisierung, die letztlich zum Zusammenbruch des weströmischen Reiches führte“, erklären Susanne Hakenbeck von der University of Cambridge und ihre Kollegen. „Zeitgenössische Berichte erzählen von Gewalt, Verrat und von Verträgen, die so schnell gebrochen wie geschlossen wurden.“ Für die gebildeten Römer der Spätantike waren die Reiternomaden unzivilisierte Barbaren, die es um jeden Preis abzuwehren galt. Für Befremden sorgte neben der nomadischen Lebensweise unter anderem die Sitte der Hunnen, die Köpfe ihrer Kinder so einzubinden, dass sie nach oben hin stark ausgezogene „Turmköpfe“ entwickelten. Doch die von der römischen Elite dominierte Geschichtsschreibung gibt nur wenig Aufschluss darüber, wie das Leben im Grenzgebiet entlang der Donau damals wirklich aussah. Entgegen den spätantiken Berichten liefern bisherige Funde aus diesem Gebiet nur wenige Belege für Krieg und Zerstörung, wie Hakenbeck und ihre Kollegen berichten.
Um mehr über das Zusammenleben von Hunnen und lokaler Bevölkerung im Donaugebiet herauszufinden, haben die Forscher nun menschliche Überreste aus fünf spätantiken Gräberfeldern im heutigen Ungarn analysiert. Für ihre Studie untersuchten sie die Schädel und Zähne der Toten sowie die Grabbeigaben und entnahmen Proben mehrerer Zähne und Knochen. Durch Isotopenanalysen dieses Materials gewannen sie einen Einblick in die Herkunft, Lebensweise und Ernährung der Toten. „Die Verhältnisse der Stickstoff-Isotope erlauben es, den relativen Anteil tierischer Proteine an der Ernährung zu bestimmen „, erklären die Wissenschaftler. „Strontium- und Sauerstoff-Isotope werden genutzt, um zu bestimmen, ob ein Individuum dort aufgewachsen ist, wo es beerdigt wurde oder nicht.“
Voneinander lernen statt kämpfen
Die Analysen enthüllten Überraschendes: „Es gibt keinerlei Hinweise auf große soziale Störungen oder wirtschaftliche Not“, berichten Hakenbeck und ihre Kollegen. „Die Gräber waren alle wohlkonstruiert und gut ausgestattet.“ In allen Gräberfeldern stießen die Forscher auf Hinweise beider Lebensweisen – der halbnomadischen der Hunnen und der sesshaft-bäuerlichen der örtlichen Bevölkerung. Dies war unter anderem an Grabbeigaben sowohl weströmischer als auch zentralasiatischer Herkunft erkennbar. Den Isotopenanalysen zufolge waren einige Tote zudem nicht lokaler Herkunft und daher wahrscheinlich Hunnen. Dennoch lagen ihre Gräber weder isoliert von denen der lokalen Bevölkerung noch sahen sie deutlich anders aus, wie die Forscher berichten. „Diese Belege sprechen dafür, dass die aus Zentralasien neuankommenden Gruppen oder Individuen keine Außenseiter waren, sondern Teil des gemischten Umfelds im spätantiken Pannonien“, sagen die Wissenschaftler.
Diese Integration und Durchmischung von Hunnen und lokalen Bauern zeigte sich auch im Speiseplan der Bevölkerung: Einige der Toten hatten während ihrer Lebenszeit ihre Ernährung umgestellt. Zunächst dominierten Fleisch und Hirse, wie bei den nomadischen Hunnen üblich. Dann jedoch nahm der Fleischanteil ab und Getreide und Gemüse machten einen größeren Anteil des Speiseplans aus. Insgesamt lagen die Isotopenwerte aller Toten zwischen denen von damaligen Bewohnern Mitteleuropas und von zentralasiatischen Nomaden, wie die Forscher berichten. Dies spreche dafür, dass sich an der Donau die Lebens- und Ernährungsgewohnheiten von Bauern und Nomaden aneinander angeglichen hatten. „Es ist wahrscheinlich, dass die Gruppen und Individuen zwischen den Lebensweisen wechselten, und dies oft sehr schnell“, berichten Hakenbeck und ihre Kollegen. „Nomadische Viehzüchter wurden zu Bauern und Bauern wurden zu Viehzüchtern.“ Sogar die Sitte der Schädeldeformation übernahmen einige Bauern offenbar von ihren hunnischen Nachbarn, wie die Grabfunde belegen.
Statt sich zu bekämpfen arrangierten sich die Bewohner des Grenzgebiets demnach eher pragmatisch mit ihren neuen Nachbarn schauten sich einiges von ihnen ab. Umgekehrt begannen die sich dort ansiedelnden Hunnen, kleinere Viehherden zu halten und dafür mehr Getreide und Gemüse anzubauen. „Während die schriftlichen Zeugnisse aus dem letzten Jahrhundert des römischen Reichs Ausbrüche von Gewalt in den Mittelpunkt stellen, deuten unsere Daten auf ein gewisses Maß der Kooperation und Koexistenz unter den Menschen im Grenzgebiet hin“, erklärt Hakenbeck. „Statt eines Kampfs der Kulturen könnte der fließende Übergang zwischen den Lebensweisen für diese Menschen eine Überlebensstrategie in diesen instabilen Zeiten gewesen sein.“