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Schauten unsere Vorfahren bei den Neandertalern ab?

Geschichte|Archäologie

Schauten unsere Vorfahren bei den Neandertalern ab?
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Vier Ansichten eines der neu entdeckten Neandertaler-Knochenwerkzeuge (Abri Peyrony & Pech-de-l'Azé I Projects)
Lange Zeit galten die Neandertaler als eine Art dümmere Vettern unserer Vorfahren. Weil sie weniger intelligent und weniger technisch fortgeschritten waren, so glaubte man, mussten sie vor rund 40.000 Jahren dem aus Afrika einwandernden modernen Menschen weichen. Doch Studien und archäologische Funde widerlegen diese Sicht zunehmend. Einen weiteren Baustein dazu liefern nun neue Funde aus Frankreich. Denn sie belegen, dass der Neandertaler auch schon hochspezialisierte Knochenwerkzeuge zur Lederbearbeitung herstellte – etwas, das bisher nur vom modernen Menschen bekannt war. Möglicherweise könnte unser vermeintlich dummer Vetter diese Technik sogar erfunden haben – und unsere Vorfahren schauten es sich nur von ihm ab.

Welche Fertigkeiten unsere eiszeitlichen Vettern einst besaßen, ist noch immer umstritten: Einige Forscher sind der Meinung, dass Neandertaler bereits ähnlich kulturell fortgeschritten waren wie die anatomisch modernen Menschen ihrer Zeit. Andere gehen dagegen davon aus, dass diese Ähnlichkeiten erst auftraten, nachdem sich  beide Menschenarten begegnet waren und sich die Neandertaler einiges von unseren Vorfahren abgeguckt hatten. Dafür spricht, dass beispielsweise kleine Steinklingen, Schmuck und Knochenwerkzeuge erst aus der Endzeit der Neandertalerkultur bekannt sind – kurz bevor die Eiszeitmenschen endgültig vom modernen Menschen verdrängt wurden. Das war vor rund 40.000 Jahren der Fall.

Spezial-Werkzeug für die Lederbearbeitung

Als eine der Techniken, die sich erst nach Ankunft unserer Vorfahren in Europa ausbreitete, galt bisher die Herstellung und Nutzung spezialisierter Knochenwerkzeuge. „Zwar stellten auch die Neandertaler manchmal Schaber und sogar Faustkeile aus Knochen her“, erklärt Shannon McPherron vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, einer der beiden Leiter der Ausgrabungen. Die bisherigen Funde ähnelten aber noch stark den Steinwerkzeugen und wurden auch mit ähnlichen Techniken hergestellt. Anders dagegen die von den modernen Steinzeitmenschen hergestellten Knochenwerkzeuge: Sie hatten neue Formen und nutzten gezielt die Vorteile des leichteren und weicheren Knochenmaterials. So schliffen unsere Vorfahren die Enden von Knochen zu runden Schabern ab, sogenannten Lissoirs. Mit diesen handlichen, gut greifbaren Werkzeugen rieben sie so lange über Tierhäute, bis das Leder weich, glatt und wasserbeständiger wurde.

Solche Lissoirs hat ein internationales Forscherteam um Shannon McPherron und Marie Soressi von der Universität Leiden nun erneut in Frankreich entdeckt. Aber: Sie stammen nicht von modernen Menschen, sondern von Neandertalern. Gefunden wurden die insgesamt vier Fragmente solcher Knochenwerkzeuge bei Ausgrabungen in Abri Peyrony und Pech-de-l’Azé I, zwei Neandertaler-Lagerplätzen nahe der Dordogne im Südwesten Frankreichs. Beide Fundstätten enthalten nur Hinterlassenschaften der Neandertaler, Hinweise auf eine spätere Nutzung durch moderne Menschen gibt es nicht.

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Alle vier Lissoirs waren aus Rippenknochen von Hirschen oder Rentieren hergestellt und an der Spitze zu einem Schaber geschliffen. Mikroskopische Untersuchungen enthüllten typische Gebrauchsspuren an den Werkzeugen, die darauf hindeuten, dass die Neandertaler diese Knochenschaber bereits genauso nutzten, wie später der modernen Mensch: zum Glätten und Weichmachen von Leder. „Hier haben wir ein Beispiel dafür, dass Neandertaler sich die Biegsamkeit und Flexibilität von Knochen zunutze machten und damit Arbeiten verrichteten, die sie mit Steinen nicht hätten ausführen können“, sagt McPherron.

Wer klaute die Idee von wem?

Datierungen ergaben, dass das Knochenwerkzeug aus Pech-de-l’Azé I etwa 50.000 Jahre alt ist. Es ist somit älter als die frühesten Belege zu modernen Menschen in Westeuropa und viel älter als andere spezialisierte Technologien zur Herstellung von Werkzeugen aus Knochen, wie die Forscher berichten. Ihrer Ansicht nach könnte das bedeuten, dass nicht der moderne Mensch, sondern vielmehr der Neandertaler diesen Knochenwerkzeugtyp erfand. „Dies ist der erste Hinweis darauf, dass es möglicherweise zu einem ‚kulturellen‘ Transfer zwischen Neandertalern und unseren direkten Vorfahren gekommen ist“, sagt Soressi. Unsere Vorfahren könnte sich dann diese Technik abgeguckt haben, als sie nach Europa einwanderten. „Dann könnte es sich dabei um das einzige Erbe aus der Zeit der Neandertaler handeln, das unsere Gesellschaft heute noch nutzt“, ergänzt McPherron.

Wie die Forscher betonen, können sie jedoch nicht völlig ausschließen, dass der moderne Mensch doch früher in Europa eingetroffen sein könnte als bisher bekannt. Dann könnte er theoretisch doch die Technik der Lissoir-Herstellung an die Neandertaler weitergegeben haben. Allerdings: Als unsere Vorfahren Europa besiedelten, brachten sie zunächst nur spitze Knochenwerkzeuge mit, wie die Wissenschaftler berichten. Erst wenig später dann stellten sie auch Lissoirs her. Um zu klären, wer damals bei wem „Industriespionage“ betrieb, müssen nun weitere Fundstätten in Zentraleuropa erschlossen werden, die besser konservierte Knochen enthalten. Das könnte darüber Auskunft geben, wie verbreitet die Herstellung solcher Knochenwerkzeuge bei den Neandertalern wirklich war – und ob sie diese Technik selbst erfanden.

Quelle:

© wissenschaft.de – Nadja Podbregar
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