Die Blaue Schmeißfliege (Calliphora vicina) löst bei den meisten Menschen eher Ekel aus. Denn das zweiflügelige Insekt besucht bevorzugt Kadaver und Kot, um Nahrung zu finden und ihre Eier zu legen. Aber für Biomechaniker und Ingenieure ist die lästige Fliege ein faszinierendes Wunderwerk, eine geniale Erfindung der Natur. „Ihr einziges Flügelpaar erlaubt ihr eine Reihe dramatischer Flugmanöver, vom Wenden auf der Stelle über das Rückwärtsfliegen bis zum Landen kopfüber an der Decke“, erklären Simon Walker von der University of Oxford und seine Kollegen. In der Zeit, die wir für einen Wimpernschlag benötigen, absolviert die Schmeißfliege 50 Flügelschläge. Ihr Flugapparat ist dabei scheinbar simpel: Jeder Flügel wird von vier durch Dehnung aktivierte Muskeln angetrieben, die nicht am Flügel direkt ansetzen, sondern am Brustpanzer des Insekts. Die von ihnen ausgelöste Verformung und Oszillation überträgt sich aufs Flügelgelenk und bringt die Flügel in Bewegung.
Erster Blick ins Innere der fliegenden Fliege
„Fliegen haben ein Problem gelöst, an dem Ingenieure noch arbeiten: Sie erzeugen große, komplexe und dreidimensionale Bewegungen mit Bauteilen, die selbst nur kleine, einfache und eindimensionale Bewegungen ausführen“, erklärt Seniorautor Graham Taylor von der University of Oxford. Das Geheimnis des Fliegenflugs ließ sich bisher aber kaum ergründen, denn der dicke Brustpanzer versperrt die Sicht auf die innenliegenden Flugmuskeln. Ihre Lage und Anordnung lässt sich zwar an toten oder betäubten Exemplaren per Röntgenbild abbilden. Wie die Muskeln aber im Flug und vor allem während der schnellen Wendungen arbeiten, können normale Röntgengeräte nicht einfangen – dafür sind die Bewegungen der Fliegen viel zu schnell.
Walker und seine Kollegen nutzten daher eine aufwändigere Methode: Sie ließen die Fliegen in einer Spezialkammer am Paul Scherrer Institut im schweizerischen Villigen fliegen und durchleuchteten die Insekten dabei mit dem hochfokussierten Röntgenstrahl der Synchrotron Lichtquelle Schweiz.. Dieses im Teilchenbeschleuniger erzeugte Röntgenlicht ermöglicht extrem schnelle Belichtungen in einer Frequenz von 145 Herz und Auflösungen im Mikrometerbereich. „Das ist das erste Mal, dass die inneren Bewegungen eines Organismus dreidimensional und im Submillisekunden-Bereich aufgelöst visualisiert wurden“, so die Forscher. Sie setzten die Einzelbilder zu einem Film zusammen, der nun Aufschluss über die Arbeit der Schmeißfliegen-Flugmuskeln gibt – und der verrät, wie sie ihre halsbrecherischen Wendungen steuern.
Kleine Muskeln, große Wirkung
Die 3D-Aufnahmen aus dem Inneren der Fliege zeigten gleich einige unerwartete Verhaltensweisen der Flugmuskeln, wie die Forscher berichten. So machen die Muskeln, die die Wendungen steuern, nur drei Prozent der gesamten Flugmuskelmasse aus. Ihre dennoch potente Steuerwirkung entfalten sie daher vorwiegend indirekt: Sie verformen den Brustpanzer und ihre Sehnen wirken auf die Flügelgelenke ein. Einige der Steuermuskeln wirken dabei wie ein Getriebe, erklären die Forscher: Sie übersetzen langsame in schnellere Schwingungen und können so die Flugmuskeln zu gegeneinander verschobenen Oszillationen bringen. Das macht die schnellen Wendungen möglich. „Das ist als wenn man die Gänge eines Autos zum Bremsen nutzt“, erklärt Taylor.
Die neuen Röntgen-3D-Filme eröffnen damit einen Einblick in das Innenleben eines der komplexesten Mechanismen der Natur, wie die Forscher erklären. „Das Flügelgelenk der Fliege ist das Produkt von mehr als 300 Millionen Jahren evolutionärer Optimierung“, sagt Walker. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist ein Mechanismus, der sich fundamental von konventionellen Konstruktionen des Menschen unterscheidet. Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte er daher als Vorbild dienen, um mikromechanische Apparate und andere technische Geräte zu verbessern. Noch allerdings ist die einfache Schmeißfliege unseren Ingenieuren zumindest in puncto Flugsteuerung weit voraus.