Der moderne Mensch und der Neandertaler sind nahe Verwandte: Ihre gemeinsamen Vorfahren haben sich einst in Afrika entwickelt und sich dann über ihren Heimatkontinent hinaus ausgebreitet. In Europa entwickelten sie sich zum Neandertaler weiter – in Afrika zum moderne Menschen. Vor etwa 70.000 Jahren wanderte der modernen Mensch dann in Europa ein und verdrängte den Neandertaler. Er verschwand allerdings nicht spurlos: Genetische Studien haben gezeigt, dass der moderne Mensch ein wenig Neandertaler Erbgut in sich trägt. Die beiden Menschenformen haben sich demnach bei ihrem Aufeinandertreffen noch vereinzelt vermischt. Vermutlich war die Kombination allerdings nicht mehr sehr fruchtbar, denn die Jahrhundertausende der getrennten Evolution hatten sie doch sehr verschieden gemacht.
Das Ausmaß der Unterschiede, die sich in dem evolutionär betrachtet kurzen Zeitraum zwischen beiden Menschenformen entwickelt hatten, ist Anthropologen zufolge erstaunlich. „Seit Jahrzehnten gibt es eine Diskussion über die Prozesse, die zur Entstehung der Neandertaler geführt haben”, sagt Ignacio Martínez, einer der beteiligten Forscher von der University of Alcalá. „Ein wichtiger Diskussionspunkt war dabei immer, ob die Neandertalisierung von Anfang an alle Teile des Schädels umfasste, oder ob es unterschiedliche Phasen gab, in denen sich nur bestimmte Teile entwickelten”. Genau auf diese Frage geben die aktuellen Untersuchungsergebnisse nun offenbar eine Antwort.
Ein Mix der Eigenschaften
Die Funde aus der Sima de los Huesos umfassen Schädelknochen von 17 Individuen, die den Anthropologen zufolge alle der gleichen Population angehörten. Datierungen ergaben ein Alter von etwa 430.000 Jahren. Somit fallen sie in die Frühzeit der Entwicklungsphase, die zum Neandertaler führte. Die Untersuchungen der teils sehr gut erhaltenen Schädel ergaben: Gesicht und Zähne besaßen bereits Neandertaler typische Merkmale, doch andere Teile, vor allem die Hirnschale, wiesen noch Züge früherer Menschenformen auf. Viele der Neandertaler-artigen Eigenschaften standen im Zusammenhang mit dem Kauapparat, resümieren die Forscher.
Diese Ergebnisse belegen also die stufenweise Entwicklung zum klassischen Neandertaler. Demnach hat sich erst der Kauapparat entwickelt und dann der Rest. „Es scheint als ob diese Veränderungen etwas mit dem intensiven Gebrauch der Vorderzähne zu tun hatten”, sagt Studienleiter Juan-Luis Arsuaga von der Complutense Universität von Madrid. Ihm zufolge könnte das damit zu tun gehabt haben, dass die Menschen von Sima ihre Zähne wie eine dritte Hand benutzt haben.
Das folgende Video vermittelt einen Eindruck vom Fundort Sima de los Huesos, den Ausgrabungen und den Forschungsarbeiten. Die „Knochengrube” hat sich in den letzten Jahren als eine wahre Goldgrube für die Anthropologie erwiesen: An keinem anderen Fundort der Welt wurden so viele Überreste archaischer Menschen entdeckt wie hier.