Die Gorham-Höhle in Gibraltar hat sich bereits häufig als Schatzgrube für Anthropologen erwiesen: Knochen, Werkzeuge und Nahrungsreste belegen, dass über Jahrtausende hinweg Neandertaler in den Felsgewölben gelebt haben. Nun fügen die Forscher um Joaquín Rodríguez-Vidal von der Universität von Huelva den Funden allerdings eine ganz neue Kategorie hinzu: eine Art Neandertaler-Höhlenkunst. Bisher wurden vergleichbare Artefakte nur dem modernen Menschen zugeschrieben. Doch im Fall der Gravur in der Gorham-Höhle sind die Forscher überzeugt: Hier ritzte einst ein Neandertaler absichtlich ein abstraktes Zeichen in den Fels.
Es handelt sich bei dem Werk um eine markante Kreuz-Struktur aus acht tiefen Linien, von denen die längste ungefähr 15 Zentimeter misst. Sie befinden sich auf einem natürlichen Plateau, das sich etwa 40 Zentimeter vom Höhlenboden erhebt. Um auszuschließen, dass es sich nur um ein natürliches Gesteins-Phänomen handelt, führten die Forscher Vergleichsuntersuchungen durch. Sie ritzten dazu mit verschiedenen Materialien ähnliche Strukturen in den Fels und verglichen die Ergebnisse mit dem Original.
Die akribischen Analysen belegten: Es handelt sich nicht um natürliche Felsrisse und es erscheint auch unwahrscheinlich, dass die Linien ein zufälliges Beiprodukt einer profanen Tätigkeit waren, wie beispielsweise durch die Bearbeitung von Nahrung. Den Forschern zufolge hat hier jemand wiederholt einen harten spitzen Gegenstand gezielt über den Fels geschrammt, um genau dieses Ergebnis zu erhalten.
War hier ein abstrakter Verstand am Werk?
Dass dieser Jemand ein Neandertaler war, geht aus den Eigenschaften des Fundortes hervor, sagen die Forscher: Die Gravur war von einer Sedimentschicht bedeckt, in der zuvor Spuren der Besiedlung durch Neandertaler entdeckt worden waren. Den Analysen zufolge ist das Material ungestört – es gibt keine Anzeichen dafür, dass es durch Verwerfungen zur Deckschicht des Fundes wurde. Das bedeutet: Das Artefakt wurde eingeritzt, bevor sich das 39.000 Jahre alte Sediment darüber bildete. Daraus schließen die Forscher: Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es ein Neandertaler, der hier einst Hand angelegt hat.
Bisher ging man davon aus, dass Zeichnungen oder Gravuren in Höhlen erst von den modernen Menschen angefertigt wurden, die sich vor etwa 40.000 Jahren in Europa breitmachten und den Neandertaler verdrängten. Das Fehlen entsprechender Ausdrucksformen wurde in diesem Zusammenhang als ein Zeichen dafür gewertet, dass die Neandertaler unseren Vorfahren geistig unterlegen waren. Doch Funde der letzten Jahrzehnte haben diese Sichtweise zunehmend in Frage gestellt. So gibt es beispielsweise Hinweise, dass auch Neandertaler bereits Schmuckgegenstände wie Federn oder Muscheln schätzten und dass sie ihre Toten feierlich bestatteten. Dies legte bereits nahe, dass auch Symbole Teil ihrer Kultur waren.
Der Neandertaler bleibt geheimnisvoll
Der aktuelle Fund bereichert dieses Bild nun weiter, sagen die Forscher, denn ihnen zufolge handelte es sich bei der Gravur um eine abstrakte Ausdrucksform. Die Kreuz-Zeichen waren gezielt angefertigt worden und sollten vermutlich auch für andere sichtbar sein. Welche Bedeutung sie hatten, darüber lässt sich allerdings nur spekulieren. War es ein Symbol, ein kultisches Zeichen oder nur eine Spielerei? Was den Neandertalern einst im Zusammenhang mit diesem Zeichen durch de Kopf ging, wird vermutlich immer ein Geheimnis bleiben.
Eine weitere offene Frage ist weiterhin, warum unsere Vorfahren den Neandertaler vor rund 40.000 Jahren verdrängen konnten, denn vermutlich waren sich beide Menschenformen weitgehend ebenbürtig. Neusten Untersuchungen zufolge verschwanden die letzten Neandertaler vor etwa 39.000 Jahren. Doch eigentlich ist der Neandertaler gar nicht wirklich ausgestorben, denn er lebt in uns weiter: Rund zwei Prozent des Erbguts aller Europäer stammen von ihm, haben Genanalysen gezeigt. Er hat sich also zumindest in einigen Fällen noch mit dem modernen Menschen vermischt.