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Der glibberige Ursprung der Tiere

Erde|Umwelt

Der glibberige Ursprung der Tiere
Neue Gen-Analysen bestätigen die Hypothese des lange Zeit verkannten Biologen Wolfgang Gutmann: Rippenquallen sind dem gemeinsamen Vorfahren aller Tiere am ähnlichsten.

Lautstark, hitzig und mitunter sogar persönlich beleidigend – so diskutierten Biologen lange über den Stammbaum der Tiere. Gibt es einen gemeinsamen Vorfahren? Begann das Leben als Schwamm? Sind Regenwürmer eher mit Insekten als mit Schnecken verwandt? Honorige Zoologen stritten sich wie Kinder im Sandkasten, die ihre eigene Burg für die schönste halten. In der einen Ecke scharten sich die arrivierten Schulen um Adolf Remane und Willi Hennig, deren Theorien den Weg in die Biologiebücher fanden und zur Lehrmeinung wurden. In der anderen Ecke hatte sich das Enfant terrible Wolfgang Gutmann vom Frankfurter Forschungsinstitut Senckenberg verschanzt.

Kurz darauf fielen die meisten Gedankengebäude, die in so mancher Schlammschlacht vehement verteidigt wurden, sang- und klanglos in sich zusammen. Denn mit den Methoden der Genom- Analyse, die in den 1980er-Jahren aufkamen, konnte man das Erbgut von Arten miteinander vergleichen und ihre Verwandtschaft objektiv messen. Nach und nach etablierten Molekularbiologen und Zoologen eine genetisch begründete Systematik des Tierreichs, die „New Animal Phylogeny“. Umstritten blieb jedoch weiterhin, welche Tiergruppe die ursprünglichste ist.

Jetzt hat die erste vollständige Analyse des Rippenquallen-Erbguts ergeben, dass die Basis des tierischen Lebens offenbar schillernd bunt und glibberig war: Nicht die Schwämme sind, wie bisher angenommen, dem gemeinsamen Vorfahren aller Tiere am nächsten. Es sind vielmehr die Rippenquallen – gallertige, tagsüber in allen Regenbogenfarben schillernde und nachts in grünlichen Lichtpulsen gespenstisch glimmende Kreaturen. Kaum ein Zoologe hätte das für möglich gehalten. Nur der rebellische Biologe Gutmann hatte diese kaum erforschte Tiergruppe schon 1976 an die Basis allen tierischen Lebens gestellt.

Rippenquallen haben mit den bei Strandurlaubern so unbeliebten Nesselquallen nichts gemein – außer dem ähnlich glibberigen Körper. „Rippenquallen haben keine Nesselzellen und brennen deshalb nicht“, sagt Sören Bolte, Evolutionsbiologe am Institut für Allgemeine Mikrobiologie der Universität Kiel. „Den Unterschied spürt man sofort.“

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Eine der am besten untersuchten Rippenquallen-Arten ist Mnemiopsis leidyi. Anders als die meisten anderen Arten kommt die „Meerwalnuss“ nicht in der Tiefsee, sondern in Küstennähe vor. Außerdem lässt sie sich im Labor züchten. Casey Dunn von der Brown-Universität in Providence auf Rhode Island entschloss sich, ihr Erbgut zu analysieren. Dunns Ergebnisse beweisen, dass die Vorfahren der heute noch lebenden Rippenquallen bereits existierten, bevor sich Schwämme und alle anderen Tiere entwickelten. Eine revolutionäre Entdeckung – ähnlich frappant, als würde jemand Schweine anstelle von Schimpansen als die nächsten Verwandten des Menschen bezeichnen.

Tatsächlich erscheinen die filigranen Rippenquallen auf den ersten Blick viel zu komplex, um die „primitivsten“ aller Tiere zu sein. Während die Quallen Muskelzellen und sogar ein einfaches Nervensystem haben, bestehen Schwämme nur aus haut- und darmähnlichen Zellen und wurden deshalb lange Zeit als älteste Art angesehen. Doch Dunns Vergleiche des Rippenquallen-Genoms mit dem Erbgut von Schwämmen, Nesselquallen, Weichtieren und anderen Tiergruppen sind eindeutig. Und damit geben Dunns Daten dem zeitlebens verkannten Wolfgang Gutmann (1935 bis 1997) posthum Recht.

Für Biologen in den 1970er-Jahren, also bevor molekularbiologische Methoden zum Einsatz kamen, war es ein fast hoffnungsloses Unterfangen, die Verwandtschaftsbeziehungen der Arten zu entschlüsseln. Außer spärlichen Fossilien hatten die Zoologen nur die noch lebenden Tiere und deren morphologische Ähnlichkeiten als Anhaltspunkte. Als bester Beleg für die Verwandtschaft zweier Arten galt den meisten Biologen der Nachweis von Ähnlichkeit (Homologie) der Organe oder Körperstrukturen. Weil Haare bei Mensch und Maus gleich aufgebaut sind, sind sie homolog – also gehören die beiden Arten in dieselbe Klasse der Säugetiere. Insektenhaare hingegen sind anders aufgebaut, also nicht homolog, und folglich kein Verwandtschaftsmerkmal. Evolutionsbiologen sprechen hier von Analogie statt Homologie.

Verwandt – oder nur ähnlich?

Wolfgang Gutmann war das viel zu simpel, sagt der Biologe und Paläontologe Michael Gudo. Wie Gutmann war er am Frankfurter Senckenberg-Museum tätig, bevor er die Auftragsforschungsfirma Morphisto gründete. Ähnlichkeit allein habe Gutmann nicht gereicht, um Verwandtschaftsbeziehungen zu belegen. Sein Grundgedanke: „Wenn die Evolution ein funktionierendes lebendes System umbaut, dann kann kein Zwischenstadium existieren, das mechanisch und energetisch nicht funktioniert.“ Das heißt: Selbst wenn sich die Organe von zwei Arten ähneln, sind sie nicht unbedingt verwandt, wenn die Zwischenformen nicht lebensfähig wären.

Gutmann versuchte, eine funktionierende Entwicklungsabfolge in kleinen evolutionären Schritten nachzuzeichnen. „Erst wenn solch eine Reihe entworfen ist, kann man über Homologien und Analogien sprechen“, sagt Gudo. Gutmanns Gegner dachten genau umgekehrt: Sie stellten zunächst auf der Ebene der reinen Merkmalsähnlichkeit Homologien fest und machten sich erst danach Gedanken, wie ein schrittweiser Umbau verlaufen sein könnte.

„Dabei sind oft leichtfertig Zwischenformen gezeichnet worden, bei denen sich keiner so recht überlegt hat, ob die überhaupt funktionieren könnten“, sagt Jürgen Markl, Zoologe und Evolutionsbiologe an der Universität Mainz. „Darüber hat sich Gutmann zu Recht aufgeregt.“ Dabei sparte er nicht mit deftigen Worten. Er nannte die Lehre seiner Gegner „eine sinnleere, für Realitäten blinde morphologische Methode“, die sich auf der Ebene einer Logik bewege, „die empfiehlt, man müsse in Afrika nach Erdgas bohren, um in Australien Eisenerze finden zu können“.

Allerdings musste Gutmann zuvor von den konservativen Biologen so manche Demütigung einstecken. Erich Reisinger etwa diffamierte Gutmanns Vorschläge als „fiktive Konstruktionen, ohne in der Natur vorhandene Repräsentanz und ohne Beweiskraft“. Der Grazer Biologe verglich Gutmanns Zeichnungen sogar mit den Cartoons des Zoologen Gerolf Steiner, den fiktiven „Nasenschreitlingen“, um sie ins Lächerliche zu ziehen.

Heute belächelt sie niemand mehr. Denn die genetischen Stammbaum-Analysen haben so manche Idee Gutmanns bestätigt. Darunter auch die Theorie, dass die Vorfahren der heutigen Rippenquallen die ersten vielzelligen Tiere gewesen sein könnten.

Anfang der 1970er-Jahre machte sich Gutmann Gedanken darüber, wie der Übergang von Ein- zu Vielzellern (Metazoen) abgelaufen sein könnte. Er erkannte, dass die Metazoen nicht nur aus vielen Zellen bestehen, sondern auch aus extrazellulärem Material, der Gallerte. Sie gab den ersten Vielzellern Stabilität und Bewegungsfreiheit. „Beim Versuch, einen schrittweisen Übergang zwischen Ein- und Vielzellern zu skizzieren, hat er gemerkt: Diese frühe gallertige Metazoen-Konstruktion hat erstaunliche Ähnlichkeit mit den heute noch lebenden Rippenquallen.“ So beschreibt Gudos Kollege Tareq Syed, Biologe und Philosoph am Karlsruher Institut für Technologie, Gutmanns Aha-Erlebnis.

Vom Ein- zum Vielzeller

Gutmann erläutert im Fachblatt „Natur und Museum“ vom Mai 1976, auf des-sen Titel Rippenquallen prangten: „Eine Schlüsselrolle in der Evolution der Tierstämme kommt den sogenannten Gallertoiden zu: Es sind im Meer lebende Tierformen, deren Körper zum Großteil aus Gallerte besteht, die sich durch Cilienschlag in der Schwebe halten und die ein inneres Kanalsystem zur Nahrungsaufbereitung und -verteilung haben. Diese Tierkonstruktion lässt sich von der Entstehung der Mehrzeller aus Einzellern herleiten, und aus ihr ergeben sich in der Weiterentwicklung die verschiedenen Tierstämme. Auf diese Weise wird hier erstmals in einem sprunglosen Ablauf die Entwicklung der verschiedenen Tiergruppen erklärt. Die Konstruktion der Gallertoide wird heute noch repräsentiert durch die Rippenquallen.“

Der Mainzer Evolutionsbiologe Jürgen Markl ist überzeugt: „ Wolfgang Gutmann hätte sich sicher sehr darüber gefreut, dass die Erbgutanalysen ihn bestä-tigen.“ Aber das bedeute nicht, dass sein System besser sei als andere Systeme vergleichender Morphologie, die erklären wollen, wie Tiere und andere Organismen miteinander verwandt sind. „Die vergleichende Morphologie hat alle möglichen Stammbäume produziert. Ein Teil hat sich bestätigt, aber manche sind auch völlig anders, als es sich irgendeiner überlegt hat“, sagt Markl. Zum Beispiel die Regenwürmer: Sie sind keineswegs nah mit Gliederfüßern wie Krebsen, Spinnen und Insekten verwandt, sondern viel näher mit den schneckenartigen Weichtieren. „Das ist etwas, was ausschließlich aus der Molekularbiologie kam.“

Das Problem bei Gutmann sei gewesen, so Markl, dass er auf der Basis des funktionsmorphologischen Ansatzes – der hinterfragt, ob ein bestimmter Körperbau unter den jeweiligen Umweltbedingungen sinnvoll ist – eine neue Evolutionstheorie entwickelt hatte, die Darwins Prinzip der Anpassung der Arten an die Umwelt durch Selektion widersprach. Sein heute als „Frankfurter Evolutionstheorie“ bekanntes Konzept besagt, dass sich Tiere nicht passiv durch schrittweise Mutation und Selektion an die Umwelt- und Lebensbedingungen anpassen, sondern sich vielmehr aktiv Lebensräume erschließen, die ihnen dank einer durch Mutation veränderten Morphologie oder Physiologie zugänglich werden. Die Körperkonstruktion der Tiere forme die ökologische Nische einer Art also zumindest mit – eine „Evolution ohne Anpassung“.

„Das halte ich für völlig überzogen“, sagt Markl, „und natürlich ist Gutmann damit überall angeeckt.“ Er igelte sich in seiner Außenseiterrolle ein und soll sich von seinen Gegnern regelrecht verfolgt gefühlt haben. „Er wäre wohl eher akzeptiert worden, wenn er sich darauf beschränkt hätte, Organismen funktionsmorphologisch zu beschreiben, damit man besser versteht, welche hypothetischen Zwischenstufen in der Evolution überhaupt hätten funktionieren können“, meint der Mainzer Forscher. „Seine funktionsmorphologischen Analysen hatten jedenfalls Hand und Fuß.“

Gutmanns Gallertoid-Hypothese lieferte eine plausible Erklärung für das Ergebnis der neuen genetischen Analysen, das Rippenquallen an die Basis des Stammbaums stellt. Aus dem Bauplan der Rippenquallen lassen sich die anderen Tiergruppen gut herleiten. „Zwar gibt es nur etwa 80 Rippenquallen-Arten, doch sie sind sehr vielgestaltig“, sagt Syed. Rippenquallen schwimmen nicht nur im Seewasser umher, sondern kriechen auch am Boden herum oder klammern sich an Steine. „Ausgehend von dieser Konstruktion kann man sehr viele Baupläne erzeugen.“ Während man sich weltweit über die neue Stellung der Rippenquallen als Urahnen aller Tiere wundert, sind Gutmann-Kenner wie Syed und Gudo nicht überrascht, sondern erfreut.

Eine Zier für den Stammbaum sind Rippenquallen allemal. Sie sind „traumhaft schöne und einzigartige Organismen“, schwärmt Casey Dunn. „Es sind die größten Organismen, die sich nur mit Zilien fortbewegen.“ Wenn Licht auf die Zilienreihen fällt, wird es in allen Regenbogenfarben gebrochen, sodass die Tiere wie futuristische Raumschiffe anmutig durch die Ozeane gleiten – seit etwa einer Milliarde Jahren. •

SASCHA KARBERG quälte sich beim Biologie-Studium durch die Vorlesung zur Systematik der Tiere. Seine Recherchen gaben ihm späte Genugtuung.

von Sascha Karberg

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