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Warum Physikern der Quantenselbstmord vielleicht erspart bleibt

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Warum Physikern der Quantenselbstmord vielleicht erspart bleibt
Bisher ist zwar noch kein Fall bekanntgeworden, bei dem ein Physiker im Dienste der Quantenphysik Selbstmord begangen hätte, aber man weiß nicht, wozu ein Wissenschaftler bereit wäre, um eine etwa fünfzig Jahre alte Frage zu klären: Sorgt das der Quantenphysik eigene Wahrscheinlichkeitsprinzip dafür, dass sich fortwährend neue Parallelwelten bilden, so dass jede Möglichkeit – sei sie noch so unwahrscheinlich – in mindestens einer Welt verwirklicht wird? Die abstrus anmutende Viele-Welten-Interpretation der Quantenphysik, die diese Frage bejaht, wird seit einigen Jahren wieder von einer zunehmenden Anzahl von Physikern vertreten. Einer der Befürworter dieser Theorie, Frank Tipler von der Tulane University in New Orleans, schlägt jetzt ein Experiment vor, dessen Ergebnis die Existenz der vielen Parallelwelten und vor allem der vielen Kopien von uns selbst bestätigen könnte.

„Gott würfelt nicht.“ So kommentierte Albert Einstein eine der grundlegenden Aussagen der Quantenphysik, wonach die Ergebnisse quantenphysikalischer Experimente einem Zufallsprinzip unterliegen – ähnlich wie das Ergebnis beim Werfen eines Würfels. Zwischen dem Würfel und der Quantenphysik gibt es jedoch einen fundamentalen Unterschied. Der Würfel gehorcht streng berechenbaren physikalischen Gesetzen. Dass wir das Ergebnis des Wurfs nicht vorausberechnen können, liegt nur daran, dass wir die Inputdaten der Gesetze nicht mit hinreichender Genauigkeit in Erfahrung bringen können: Wie schnell ist der Würfel? In welchem Winkel trifft er auf den Boden? Wie schnell und um welche Achse drehte er sich, bevor er den Boden berührte? Wären all diese Daten mit hoher Präzision bekannt, dann wäre das Würfelergebnis voraussagbar.

In der Quantenphysik ist die Situation anders. Quantenphysikalische Objekte können sich in so genannten Überlagerungszuständen befinden. Beispielsweise kann sich ein Elektron in einem Zustand befinden, in dem es sich mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit linksherum und mit gleicher Wahrscheinlichkeit rechtsherum dreht. Misst man in einem Experiment die Drehrichtung dieses Elektrons, dann wird es sich jedoch gemäß der vorgegebenen Wahrscheinlichkeitsverteilung für einen der beiden Fälle entscheiden. Für welchen, ist reiner Zufall. Die zunächst naheliegende Vermutung, dass das Elektron den gemessenen Zustand in Wirklichkeit schon vorher innehatte, konnten Physiker in zahlreichen Experimenten widerlegen.

Nun ist es aber nicht so, dass in der Quantenphysik die absolute Gesetzlosigkeit herrschen würde. Denn die zeitliche Entwicklung der Zustände ist exakt berechenbar. So könnte man sich ein Experiment vorstellen, bei dem Magnetfelder die Drehrichtung eines Elektrons beeinflussen, beispielsweise so, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Rechtsdrehung langsam auf Kosten der Linksdrehung zunimmt. Abhängig von Stärke und Form des Magnetfeldes wäre die Änderung des Zustandes exakt mit der so genannten Schrödingergleichung berechenbar. „Exakt“ bedeutet hier freilich eine exakte eindeutige Berechnung der Wahrscheinlichkeiten. Ein Ergebnis könnte zum Beispiel sein: Nach 10 Minuten beträgt die Wahrscheinlichkeit für die Rechtsdrehung 70 und die für die Linksdrehung 30 Prozent.

Der Punkt, der vielen Physikern seit Jahrzehnten Bauchschmerzen bereitet, ist das abrupte Ende der Berechenbarkeit zum Zeitpunkt der Messung. Denn bei der Messung ändert sich der Zustand des Elektrons schlagartig. Während es kurz vorher noch in einem sich auf berechenbare Weise ändernden Mischzustand aus Links- und Rechtsdrehung war, „springt“ es beim Messvorgang in einen der möglichen Zustände. Auf obiges Beispiel bezogen, kann man lediglich voraussagen, dass sich von 100 Elektronen, die in diesem Mischzustand sind, etwa 70 für die Rechts- und 30 für die Linksdrehung entscheiden. Über ein einzelnes Elektron ist keine Aussage möglich.

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Warum dieser Punkt so großes Unbehagen bereitet, wird klar, wenn man konsequent weiterdenkt, was Erwin Schrödinger (1987-1961) im Jahr 1935 in einem berühmt gewordenem Gedankenexperiment tat. Schrödinger nahm an, man würde eine Katze in eine Kiste sperren. In der Kiste befindet sich eine Apparatur mit einem radioaktiven Atomkern, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent innerhalb der nächsten Stunde zerfällt. Wenn er zerfällt, spricht ein Geigerzähler an und löst einen Mechanismus aus, der ein giftiges Gas freisetzt, das die Katze tötet.

Da der Zerfall des Atomkerns ein quantenphysikalischer Prozess ist, befindet der Kern sich nach einer Stunde in einem Mischzustand aus „zerfallen“ und „nicht zerfallen“. Schrödingers Punkt war nun: Da das Schicksal der Katze vom Atomkern abhängt, muss auch sie sich nach einer Stunde in einem Mischzustand befinden. Sie ist mit gleicher Wahrscheinlichkeit tot oder lebendig. Erst wenn der Experimentator in die Kiste hineinschaut, sollte genau wie bei einer gewöhnlichen quantenphysikalischen Messung die Entscheidung fallen. Die Frage, die Schrödinger damit aufwarf, war also: Kann ein makroskopisches Objekt oder sogar ein Lebewesen sich in einem Mischzustand befinden, der sich abrupt für einen der möglichen Einzelzustände „entscheidet“, wenn er beobachtet wird? Die Antwort jedes Laien mit gesundem Menschenverstand wäre wohl „nein“. Und für lange Zeit war wohl auch die Antwort der meisten Physiker „nein“. Aber die Bauchschmerzen blieben.

In seiner Doktorarbeit, die er im Jahr 1956 einreichte, schlug Hugh Everett eine radikale Interpretation des quantenphysikalischen Messprozesses vor. Genau genommen war es eigentlich keine Interpretation, sondern er nahm einfach nur die Schrödingergleichung Ernst. Die Schrödingergleichung beschreibt ja die kontinuierliche zeitliche Entwicklung der Mischzustände. Warum sollte man also annehmen, dass diese Gleichung zum Zeitpunkt der Messung seine Gültigkeit verliert und das vermessene Objekt plötzlich in einen Einzelzustand springt – und zwar auf vollkommen unvorhersagbare Weise? Die sehr überzeugende Antwort der meisten Physiker darauf, nämlich „Weil alle Experimente zeigen, dass es so ist!“ ignorierte Everett. Er sagte: „Wir SEHEN, dass bei den Experimenten ein Einzelzustand herauskommt.“ Aber wenn man die Schrödingergleichung Ernst nimmt, erklärt sie auch, warum wir das sehen: Mit der Messung wird der Experimentator Teil des Geschehens.

Ähnlich wie Schrödingers Katze befindet er sich nun gleichzeitig in zwei Zuständen, die aber an die Zustände des Elektrons gekoppelt sind. Das erste Ich des Experimentators sieht ein sich linksherum drehendes Elektron, sein zweites Ich sieht eines, das sich rechtsherum dreht. Konsequent zu Ende gedacht, heißt dies: Immer, wenn eine quantenphysikalische Entscheidung ansteht, verzweigt sich die Welt. Jede Möglichkeit wird in irgendeiner der vielen Welten verwirklicht. Die Antwort der Physiker auf Everetts Theorie war: Sie ignorierten ihn. Doch aufbauend auf Arbeiten von Hans-Dieter Zeh von der Universität Heidelberg wurde in den vergangenen Jahrzehnten der Formalismus weiterentwickelt, der die „Verschränkung“ des Experimentators mit den Einzelzuständen beschreibt. Das damit erklärbare Dekohärenzprinzip lieferte eine überzeugende Erklärung dafür, warum wir in der uns umgebenden Alltagswelt so gut wie nie Quantenphänomene wahrnehmen und verhalf gleichzeitig Everetts Viele-Welten-Theorie zu mehr Beachtung, die notgedrungen zu der Frage führte: Haben wir irgendeine Möglichkeit zu überprüfen, ob es diese vielen Parallelwelten mit unzähligen Kopien von uns selbst wirklich gibt?

Wie so oft, war die erste Annäherung an diese Fragestellung ein Gedankenexperiment. Ausgehend von Schrödingers Katzenexperiment dreht das Quantenselbstmordexperiment den Spieß um. Der Experimentator schlüpft in die Rolle der Katze. Er bastelt sich eine Vorrichtung, bei der ein quantenphysikalischer Prozess darüber „entscheidet“, ob beim Betätigen eines Schalters ein Gewehrschuss auf ihn abgegeben wird. Die Chancen stehen 50:50. Der Physiker setzt sich auf einen Stuhl vor die Gewehrmündung und betätigt unentwegt den Schalter. Nach dem ersten Schalten hat er noch eine Überlebenschance von 50 Prozent, nach dem zweiten sinkt sie auf 25 Prozent, dann auf 12,5, 6,25 und so weiter. Nach unzähligen Betätigungen des Schalters ist seine Chance zu überleben praktisch gleich Null. Wenn er stirbt, braucht und kann er sich keine weiteren Gedanken mehr machen. Aber was ist, wenn er nach unzähligen Schaltvorgängen noch lebt? Dann weiß er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass es die vielen Parallelwelten geben muss. Denn die Wahrscheinlichkeitstheorie sagt ihm, dass er eigentlich tot sein müsste – es sei denn, bei jedem Schalten würde eine neue Kopie von ihm entstehen. Denn der Wahrscheinlichkeit ist genüge getan, wenn bei jedem Schaltvorgang ein Ich des Experimentators erschossen wird und gleichzeitig ein Ich überlebt.

Wenn Frank Tipler Recht hat, wird wissbegierigen Physikern der Quantenselbstmord erspart bleiben. Tipler hat des Öfteren von sich reden gemacht, weil er die Theologie zum Teilgebiet der Physik machen möchte. Unter anderem glaubt er, die Existenz Gottes mit physikalischen Mitteln beweisen zu können. Den Heiligen Geist hält er für die universelle Zustandsfunktion des Universums. Für seine Theorien wird er nicht nur von einigen seiner Kollegen, sondern auch von Theologen kritisiert.

Doch sein zur Überprüfung der Viele-Welten-Theorie vorgeschlagenes Experiment ist Ernst zu nehmen. Tipler geht von einem Interferenzmuster aus, wie es beispielsweise beim Doppelspaltexperiment entsteht. Bei solch einem Experiment werden Photonen, also Lichtteilchen, auf eine Wand geschickt, in der sich zwei Spalte befinden. Hinter der Wand befindet sich ein Schirm, auf dem ein schwarzer Punkt erscheint, wenn ein Photon auftrifft. Wiederholt man das Experiment viele Male, dann bilden die Punkte ein Muster, das sich aus der Überlagerung der Aufenthaltswahrscheinlichkeiten der einzelnen Photonen ergibt. Dieses Experiment gehört zu den „Klassikern“ der Quantenphysik und offenbarte als eines der ersten das eigentümliche Zufallsprinzip der Quantenobjekte.

Tipler hat nun berechnet, dass die Existenz vieler Parallelwelten und vor allem die Existenz vieler Kopien des Experimentators den Verlauf des Experimentes beeinflusst. Die Standardversion der Quantenphysik, die von der Existenz von nur einer Welt ausgeht, macht lediglich eine Aussage über das „perfekte“ Muster, das man erhält, wenn man unendlich viele Photonen durch die Spalte schickt. In der Praxis müssen es nicht wirklich „unendlich viele“ sein, einfach nur „sehr viele“ reichen in der Regel aus, um dieses Muster zu bilden.

So lange aber nur einige wenige Photonen die Spalte passiert haben, wird man nicht erwarten, dieses perfekte Muster vorzufinden. Der entscheidende Punkt ist nun: Die Standardtheorie macht keine Aussage darüber, wie schnell sich das tatsächliche Muster dem perfekten Muster annähert. Tipler hat nun gezeigt, dass bei Annahme der Existenz vieler Parallelwelten einschließlich vieler Kopien des Experimentators eine solche Aussage möglich und vor allem mit existierenden technischen Mitteln experimentell überprüfbar ist. Tipler beendet seine Veröffentlichung mit den euphorischen Worten: „Indem man zuschaut, wie das Muster sich aufbaut, beobachtet man tatsächlich die Aktivität seiner eigenen Kopien in den Parallelwelten – genauso wie der Sonnenuntergang die Drehung der Erde offenbart.“ Nun sind Tiplers Kollegen am Zug: Entweder sie finden einen Fehler in seinen Berechnungen und seiner Argumentation oder sie führen das Experiment durch.

Frank Tipler: Testing Many-Worlds Quantum Theory By Measuring Pattern Convergence Rates, arxiv.org/abs/0809.4422 Axel Tillemans

 

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