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Duzen oder Siezen? Nach wie vor steckt in dieser Frage viel kritisches Potenzial

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Duzen oder Siezen? Nach wie vor steckt in dieser Frage viel kritisches Potenzial
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Die Art der Anrede kann schon zu Beginn einer Bekanntschaft für den Verlauf ausschlaggebend sein. Bild: Tobias Wolter, wikipedia.de
Das Duzen durchlief von den Anfängen der deutschen Sprache bis heute verschiedene Stadien der Wertschätzung und Bedeutung. Wo sich früher alle duzten, taten das bald nur noch die niederen Ränge. Zwischenzeitlich sogar aus Familien verbannt, feierte das Du während der Studentenbewegung ein Comeback. Heute ist es überall zu finden und steht dabei nicht mehr nur für Nähe, Vertraulichkeit oder Herablassung, sondern drückt oft ein ganzes Lebensgefühl aus.

Auf gute Anrede folgt guter Bescheid, sagt schon ein deutsches Sprichwort. Was an und für sich ein guter und auf den ersten Blick simpel zu befolgender Ratschlag ist, kann sich in der Praxis als problematisch erweisen. Wo früher feste Regeln und Normen die korrekte Form der Titulierung vorgaben, ist der heutigen Generation mehr Spielraum gegeben – und gleichzeitig mehr Raum für Fehler. Wo das „Du“ für den einen Nähe und Vertraulichkeit ausdrückt, hört der andere Herablassung und den Versuch der Dominanz. Dreißigjährige zum Beispiel fühlen sich eher geschmeichelt, wenn sie von Jüngeren geduzt werden, aber gönnerhaft behandelt, wenn dies Ältere tun. Wo also steht das Du heute im Gefühl der Deutschen?

Bis in die 60er Jahre hinein siezten sich schon 16- bis 17-Jährige gegenseitig als Zeichen ihres Status als junge Erwachsene. Mit den Studentenbewegungen Ende der 60er verschob sich die Altersgrenze dafür aber immer weiter nach hinten, erst zehn, dann 15 Jahre. Heute, hat der Linguist Leonhard Kretzenbacher von der Universität in Melbourne herausgefunden, gibt es überhaupt keine feste Grenze mehr: „Viel wichtiger als das absolute Alter ist bei der Anrede der Altersunterschied der beiden Gesprächspartner“, erklärt er gegenüber ddp. „Er entscheidet über die Verwendung von „du“ und „Sie“ und darüber, ob sich die Menschen korrekt angesprochen fühlen.“

Besonders viele (un)angenehme Überraschungen in der Anrede gebe es deshalb vorwiegend in der Altersgruppe zwischen 31 und 40 Jahren. „Dies ist ein Alter“, so Kretzenbacher, „wo das Selbstbild und das Fremdbild in Bezug auf die eigene Jugendlichkeit prekär wird.“ Werden Dreißiger von Jüngeren gesiezt, werten sie das demnach meist nicht als ein Zeichen des Respekts, sondern eher als unwillkommene Anerkennung des eigenen „hohen“ Alters.

„Man kann in einigen Situationen auch zu Anfang festlegen, als welcher Mensch man eingeführt werden möchte“, erklärt Linguist Gerhard Augst, ehemals von der Universität Siegen. „Zieht man zum Beispiel in ein Dorf, kann man entweder einen auf Kumpel machen oder sich mit „Ich bin der Herr Professor“ vorstellen. Einmal festgelegt, ist in diesem Fall später nichts mehr zu ändern.“

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In anderen Situationen könne die Anrede noch geändert werden, so Augst. Er empfiehlt, dafür unbedingt die erste Gelegenheit zu nutzen. In der Firma kann dies die Weihnachtsfeier sein, in der Nachbarschaft das erste Straßenfest. Gehe man nämlich nicht schnell genug vom Sie auf das Du über, so der Sprachwissenschaftler, steige der Druck, es beim Sie zu belassen. Irgendwann trete ein Gewohnheitseffekt ein und es werde immer befremdlicher, den Anderen mit Du anzusprechen.

Die alten Germanen wussten eben doch, warum sie sich gegenseitig nur duzten. Dieser Zustand der relativen Einfachheit hielt allerdings nur bis ins achte und neunte Jahrhundert nach Christus, wo für Höhergestellte die Anrede mit „Ihr“ hinzukam. „Die Mehrzahl drückte Folgendes aus“, erklärt Augst: „Du bist so hochgeschätzt, dass die Anrede als eine Person nicht ausreicht, um deinen Wert zu vermitteln.“

Martin Luther zum Beispiel, so berichtet der Sprachwissenschaftler Armin Kohz in seinem Werk „Linguistische Aspekte des Anredeverhaltens“, duzte seinen Sohn Hans, fühlte sich aber verpflichtet zum Ihrzen überzugehen, als dieser sein Magisterexamen bestand. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich dann im sogenannten Erzen, bei dem Männer mit „Er“ und Frauen mit „Sie“ angesprochen wurden, eine dritte Form der Anrede. „Knechte“, so Augst, „waren gesellschaftlich so niedrig, dass sie nicht einmal mit Du angeredet werden konnten.“

Das Siezen schließlich verbreitete sich im 19. Jahrhundert, als die feudalherrschaftliche Gesellschaft demokratisiert und egalisiert wurde. Mehr als alles andere war es wahrscheinlich eine Kompromisslösung, da der Adel sich einerseits nicht duzen lassen wollte, das „Ihr“ innerhalb der normalen Bürgerschaft aber auch nicht durchzusetzen war. Das gegenseitige Duzen war damit zu einem vorläufigen Ende gekommen. Erst die Studenten befreiten es in den 60er Jahren wieder aus dem familiären Umfeld und machten es wieder gesellschaftsfähig.

Heute gibt es, außer in sehr formellen Begegnungen, kaum noch Situationen, wo die Anrede über Wohl oder Wehe entscheidet. Eine Ausnahme hierzu hat Psychologe und Allgemeinmediziner Wolfgang Ladenbauer ausgemacht: Es gebe Situationen, wo das Siezen mitunter sehr wichtig sei. Der Vizepräsident des österreichischen Bergrettungsdienstes beschäftigte sich mit der psychologischen Ersten Hilfe bei Bergunfällen und stellte dabei fest, dass gegenseitiges Duzen zwischen Retter und Hilfsbedürftigem in vielen Fällen Vertrauen schafft, einige Frauen und vor allem junge Männer aber trotzdem lieber gesiezt werden wollten. „Bei jungen Männern ist die Autonomie eine wichtige Frage“, erklärt Ladenbauer dieses Phänomen, „Verletzungen bedeuten aber einen Kontrollverlust und damit eine Beeinträchtigung der Autonomie.“ Durch Siezen stärke das Gegenüber in diesem Fall das angeknackste Selbstbewusstsein der jungen Erwachsenen.

Bücher: Gerhard Augst: „Zur Syntax der Höflichkeit (Duzen – Ihrzen – Siezen als sozio- und pragmalinguistisches Phänomen)“. In: „Sprachnorm und Sprachwandel. Vier Projekte zu diachroner Sprachbetrachtung“, Aula-Verlag 1977, ISBN-10: 389104075X, 11,85 Euro. Werner Besch: „Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern“, Vandenhoeck & Ruprecht 1998, ISBN 3-525-34009-5, 10,90 Euro. ddp/wissenschaft.de – Livia Rasche
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