Der gesamte genetische Bauplan eines Menschen liegt in allen seinen Zellen vor. Doch noch während der Entwicklung der befruchteten Eizelle zum Embryo und schließlich zum fertigen Menschen sorgen zusätzliche Regulations-Mechanismen dafür, dass je nach Gewebe und Funktion immer nur bestimmte Teile der DNA aktiv sind. Zum einen geschieht dies durch die sogenannte Methylierung, kleine Molekülgruppen, die sich an den DNA-Strang anlagern und damit einzelne Gene blockieren. Auch durch die Faltung der DNA können bestimmte Genbereiche unzugänglich werden. Hüllproteine, die das Erbmaterial in den Chromosomen verpacken, beeinflussen schließlich ebenfalls die Genaktivität. All diese Mechanismen sind schon länger bekannt. Was jedoch fehlte, war eine umfassende Kartierung, die zeigt, welche epigenetischen Modifikationen für welche Gewebe und Zelltypen typisch sind. Diese Referenz hat das internationale Roadmap Epigenomics Consortium nun geliefert.
Ein Stammbaum unserer Zelllinien
Für das Projekt analysierten die Forscher das Epigenom von 111 verschiedenen Zelltypen und Geweben. Darunter waren sowohl Zellen aus dem erwachsenen menschlichen Körper als auch unreifes Gewebe aus Embryonen und Stammzellen aus befruchteten Eizellen. Auf diese Weise wollten die Wissenschaftler herausfinden, wie sich die Entwicklungsgeschichte und Herkunft der Zellen auf ihr Epigenom auswirkt. „Diese 111 Referenzkarten des Epigenoms liefern uns im Prinzip ein Vokabelbuch, das uns hilft, die DNA-Segmente in verschiedenen Zell- und Gewebetypen zu entziffern“, erklärt Bing Ren von der University of California in San Diego, der an mehreren Veröffentlichungen beteiligt ist. „Diese Karten sind wie Schnappschüsse, die das menschliche Genom in Aktion zeigen.“
Die Kartierung enthüllte unter anderem, dass die Herkunft und der Entwicklungsstand der Zellen eine prägende Rolle für ihr Epigenom spielen. Dies führt dazu, dass selbst Zellen im gleichen Gewebe oder Organ unterschiedliche epigenetische Modifikation an ihrem Erbgut tragen können, wie die Forscher berichten. So ähneln beispielsweise blutbildende Stammzellen im Knochenmark nur wenig den reifen Blutzellen, in deren Umgebung sie liegen, dafür aber sehr stark den embryonalen Stammzellen. Epithelzellen aus dem Drüsengewebe der weiblichen Brust haben wiederum mehr epigenetische Parallelen zu Hautzellen als zum restlichen Brustgewebe. Anhand dieser Ähnlichkeiten konnte die Forscher einen ganzen Stammbaum der Zelllinien in unserem Körper zusammenstellen – und so quasi die epigenetische Verwandtschaft der Gewebe offenlegen.
Einblicke in Vererbung und Krebs
Das Projekt gibt zudem Einblick darin, wie sich das Epigenom von Kindern von dem ihrer Eltern unterscheidet. Denn jedes Kind erbt zwar jeweils eine Chromosomenkopie von jedem seiner Elternteile, aber viele Gene werden dann nur von einem dieser beiden Kopien abgelesen. Erst dadurch entsteht die neue, individuelle Mischung von Merkmalen des Kindes. Wie die Untersuchung zeigte, spielt auch hier das Epigenom eine entscheidende Rolle. „Etwa 30 Prozent des Gensatzes, den wir tragen, wird in den Geweben unterschiedlich ausgelesen, je nachdem, von welchem Elternteil wir diese Variante geerbt haben“, erklärt Ren.
Die Kartierung des Epigenoms erbrachte zudem wertvolle Erkenntnisse zur Entwicklung von Krebstumoren. Denn wie Shamil Sunyaev vom Brigham and Women’s Hospital in Boston und seine Kollegen herausfanden, verrät die „Verpackung“ der DNA in Tumorzellen, aus welchem normalen Gewebe diese entarteten Zellen einst entstanden sind. Das könnte vor allem den Patienten helfen, bei denen zwar Metastasen entdeckt werden, der Primärtumor, von dem sie ausgingen aber nicht gefunden werden kann. Das ist bei immerhin zwei bis fünf Prozent der Krebsfälle der Fall, wie die Forscher berichten. Kennt man die Herkunft der Metastasen, dann lässt sich auch die jeweils wirkungsvollste Therapie besser bestimmen.
Zusammen mit weiteren neuen Erkenntnissen liefert diese Kartierung des Epigenoms einzigartige und wichtige Erkenntnisse in die Funktionsweise unseres Erbguts. „Wir erwarten, dass unsere Ergebnisse die Forschung in allen Zweigen der Säugetierbiologie beflügeln werden und zudem wertvolle Informationen für die Erforschung der meisten menschlichen Krankheiten liefern, nicht zuletzt auch von Krebs“, konstatiert Ren. Wegen der großen Bedeutung dieses Meilensteins wurden die 20 Publikationen frei zugänglich auf einer eigenen Plattform ins Internet gestellt.