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Prosopagnosie: Warum sich manche Menschen keine Gesichter merken können

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Prosopagnosie: Warum sich manche Menschen keine Gesichter merken können
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Prosopagnostiker können keine Gesichter erkennen, nicht einmal diejenigen ihrer Kinder oder Eltern. Schätzungsweise ein bis zwei Prozent der Bevölkerung leiden unter der angeborenen Form der Gesichtsblindheit. Sehr viel seltener ist die erworbene Form, beispielsweise nach einem Unfall oder einem Schlaganfall. Eine Therapie gegen die Gesichtsblindheit gibt es nicht. Doch die Betroffenen können Methoden entwickeln, mit der Störung zu leben.

Jeder hat manchmal Schwierigkeiten, einen Menschen wie den neu eingezogenen Nachbarn oder die Verkäuferin im Blumenladen wieder zu erkennen. Engste Bekannte und Verwandte wie die eigenen Eltern oder Kinder nicht zu erkennen, ist für die meisten jedoch unvorstellbar. Für Gesichtsblinde aber ist es Alltag: Sie tun sich schwer damit, ein Gesicht einer Person zuzuordnen und brauchen sehr lange, um sich neue Gesichter zu merken.

Erste Berichte über Gesichtsblindheit stammen zwar schon aus der Antike, doch als Wegbereiter für die Erforschung der Störung gilt der deutsche Neurologe Joachim Bodamer. Er beschrieb 1947 ausführlich die Symptome von drei Patienten, die nach einer Hirnverletzung medizinisches Personal und zum Teil sogar ihre Verwandten nicht mehr am Gesicht erkennen konnten. Bodamer nannte dieses Phänomen “Prosopagnosie”, nach den beiden griechischen Wörtern “Prosopon”, das Gesicht, und “Agnosia”, das Nichterkennen. Allgemein bekannt wurde die Prosopagnosie durch den Bestseller “Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte” des amerikanischen Wissenschaftlers und Autors Oliver Sacks.

Die Schwere der Ausfallerscheinungen hängt davon ab, wie viel Nervengewebe zerstört ist. Einige Patienten können Gesichter als solche zwar identifizieren, doch sie können sich nicht an Gesichter erinnern, auch nicht an verwandte und bekannte und manchmal sogar nicht einmal an das eigene. Häuser oder Möbelstücke hingegen erkennen sie mühelos. Auch die Mimik eines Gesichtes können sie erkennen, was es ihnen oft erleichtert, ein Gesicht einem Menschen zuzuordnen.

Schwere Fälle von Gesichtsblinden hingegen können Einzelmerkmale wie Nase, Mund oder Augen nicht zu einem Gesamtbild zusammensetzen und haben Mühe, Gesichter hinsichtlich Alter und Geschlecht zu unterscheiden. In besonders schweren Fällen können Betroffene nicht einmal ein Gesicht als solches erkennen. So ist es schon vorgekommen, dass ein Patient auf der Straße Parkuhren mit Kindern verwechselte.

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Während die erworbene Form, wie Joachim Bodamer sie beschrieben hat, schon lange bekannt ist, galt die angeborene Form noch bis vor wenigen Jahren als äußerst selten. Erst die aktuelle Forschung hat gezeigt, dass die angeborene Prosopagnosie sehr viel häufiger auftritt als die erworbene Form, aber zugleich weniger auffällt.

“Die angeborene Prosopagnosie ist eine Teilleistungsschwäche des Gehirns, vergleichbar mit einer Schreib-Lese-Schwäche”, erklärt der Arzt und Prosopagnosie-Experte Thomas Grüter aus dem westfälischen Münster. Sie ist recht einheitlich ausgeprägt: Die Betroffenen haben Probleme, ein Gesicht einer Person sicher zuzuordnen und sie lernen Gesichter langsamer. Sie lesen aber den Emotionsgehalt von Gesichtern ohne Schwierigkeiten, anders als zum Beispiel Autisten. Auch die Erkennung des Geschlechts am Gesicht bereitet ihnen keine Probleme. Weil sie ihr ganzes Leben lang gelernt haben, Personen an anderen Merkmalen als Gesichtern zu identifizieren, ist ihr Sozialleben wenig oder überhaupt nicht beeinträchtigt – im Gegensatz zu Menschen, die nach einem Schlaganfall plötzlich keine Gesichter mehr zuordnen können.

Was genau sich bei der Gesichtserkennung im Hirn abspielt, ist noch unklar. Bei der erworbenen Prosopagnosie sieht man deutliche Veränderungen im Gehirn, weil Hirngewebe zugrunde gegangen ist und einen Defekt hinterlassen hat. “Bei der angeborenen Gesichtsblindheit gibt es jedoch keine sichtbaren Veränderungen im Gehirn”, erklärt Grüter.

Für die Erkennung von Gesichtern sind nach Ansicht von Neurologen andere Hirnregionen zuständig sind als für die Erkennung von Objekten wie Häuser. Die Forscher vermuten, dass die Gesichtserkennung in drei bestimmten Hirnarealen stattfindet: Die so genannten unteren Okzipitallappen an der Rückseite des Gehirns analysieren die äußere Erscheinung des Gesichtes. Der vordere Schläfenlappen ordnet dem Gesicht Informationen wie beispielsweise den Namen der Person zu. Im hinter dem rechten Ohr gelegenen so genannten rechten Gyrus fusiformis wird das Gesicht erkannt – er ist deshalb bei Prosopagnostikern meist nicht aktiv.

Die angeborene Gesichtsblindheit ist genetisch bedingt und kann an die Nachkommen vererbt werden, weshalb in einer Familie oft mehrere Prosopagnostiker vorkommen. “Bis jetzt konnten wir aber noch nicht das Gen identifizieren, das für die erbliche Gesichtsblindheit verantwortlich ist”, sagt Grüter, dessen Frau ebenfalls die Gesichtsblindheit erforscht. Martina Grüter von der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster stellte bei Untersuchungen für ihre Dissertation über die Erblichkeit der Prosopagnosie fest, dass die angeborene Prosopagnosie viel verbreiteter ist als bisher angenommen. Thomas Grüter schätzt, dass rund ein bis zwei Prozent der Bevölkerung unter der angeborenen Prosopagnosie leiden.

Weil in der medizinischen Literatur nur Einzelfälle beschrieben waren, gab es bis vor drei Jahren keine festen Diagnosekriterien. Darum entwickelte Martina Grüter selbst eine Diagnosemethode. „Wir haben mehr als 180 Diagnosen gestellt und können das Phänomen jetzt eindeutig identifizieren.” Menschen mit angeborener Prosopagnosie haben im Allgemeinen gelernt, ihre Mitmenschen an anderen Merkmalen als dem Gesicht zu erkennen. Die Form des Haaransatzes, der Wimpern und Ohren, die Zahnstellung, die Hände, die Stimme, die Kleider oder die Gangart sind für sie Hilfsmittel, mit denen sie ihr Defizit ausgleichen. Solche Strategien sind für Gesichtsblinde sehr wichtig, denn eine Therapie gibt es nicht. “Die Patienten müssen einfach lernen, mit der Krankheit zu leben”, erklärt Grüter.

ddp/wissenschaft.de – Katharina Schöbi
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