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Buchstaben denken: Wie vollständig gelähmte Patienten lernen können, sich über ihre Gehirnströme verständlich zu machen

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Buchstaben denken: Wie vollständig gelähmte Patienten lernen können, sich über ihre Gehirnströme verständlich zu machen
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Vollständig gelähmte Patienten können ihrer Umwelt nichts mehr mitteilen – doch ihre geistigen Fähigkeiten sind voll erhalten. Ein Tübinger Forscherteam hat ein computerbasiertes System entwickelt, mit dem die Patienten lernen, ihre Gehirnströme zu kontrollieren. So können sie Buchstaben auswählen und zu Worten und Sätzen zusammensetzen. Doch noch ist die Kommunikation mit diesem Hilfsmittel oft langsam und mühselig.

Das Treffen mit Elias Musiris verläuft etwas ungewöhnlich: Als der Geschäftsmann aus Lima im Rollstuhl zur Tür hereingefahren wird, ist von ihm kein Wort der Begrüßung zu hören. Sein Gesichtsausdruck bleibt seltsam starr. Der Mund ist halb geöffnet, die Augen starren scheinbar ziellos in die Ferne, keine Veränderung der Mimik deutet auf Freude oder Erstaunen hin. Was auf den ersten Blick wie völlige Teilnahmslosigkeit oder geistige Behinderung wirkt, hat in Wirklichkeit eine rein körperliche Ursache: Sämtliche Muskeln des etwa 50-Jährigen sind bewegungsunfähig. Dabei sind die Gedanken des scheinbar apathisch im Rollstuhl sitzenden Manns genauso klar wie die eines durchschnittlichen gesunden Menschen.

“Locked-in-Syndrom” lautet der Überbegriff für dieses Krankheitsbild. Die Betroffenen sind buchstäblich gefangen in ihrem eigenen Körper. Mögliche Ursachen der Erkrankung sind schwere Wirbelsäulenverletzungen oder Hirnschäden durch Schlaganfälle. Am häufigsten führen jedoch neurologische Erkrankungen, insbesondere die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) zur vollständigen Lähmung. Bei ALS gehen die motorischen Nervenzellen des Rückenmarks und des Gehirns nach und nach zugrunde. Am Ende fallen selbst die Muskeln zum Atmen und Schlucken aus – der Patient muss künstlich beatmet und ernährt werden, um weiterleben zu können.

“Wenn das Leben in diesem Zustand überhaupt noch lebenswert sein soll, müssen die Patienten eine Möglichkeit haben, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren”, sagt Thilo Hinterberger, Mitarbeiter am Institut für medizinische Psychologie in Tübingen im Interview mit der Nachrichtenagentur ddp. Eine Arbeitsgruppe um den Tübinger Psychologen Niels Birbaumer beschäftigt sich seit acht Jahren mit der Entwicklung von Kommunikationssystemen für ALS-Patienten.

Mit deren Hilfe lernen die Gelähmten, ihre Gehirnströme so zu kontrollieren, dass sie damit Ja-Nein-Antworten geben und sogar Texte verfassen können. Die Idee hierfür entstand aufgrund von Erfahrungen, die Birbaumer mit Epileptikern gemacht hatte: Einigen von ihnen gelingt es durch Training, ihre elektrische Hirnaktivität willentlich so zu beeinflussen, dass sie den nächsten epileptischen Anfall abwenden können.

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Bei ALS-Patienten konzentrierten sich die Neurowissenschaftler auf die so genannten langsamen kortikalen Potenziale. Bei diesen Wellen nimmt die elektrische Hirnaktivität, die mit Elektroden von der Kopfhaut abgeleitet wird, mehrere Sekunden lang positive oder negative Werte an. Diese werden auf einem Bildschirm durch die Wanderung eines Balles nach oben oder unten sichtbar gemacht. Bleibt der Ball während eines Durchgangs überwiegend in der oberen Bildschirmhälfte, wird dies als “Ja” klassifiziert, befindet er sich überwiegend in der unteren Hälfte, handelt es sich um ein “Nein”.

Den Ball nach oben zu steuern, gelingt manchen Patienten, indem sie sich die Vorbereitung einer Handlung vorstellen: Zum Beispiel bei einem Rennen am Start zu stehen oder an einer roten Ampel auf grün zu warten. Erreicht ein ALS-Patient zuverlässig eine Trefferquote von etwa 75 Prozent, kann er mit dem so genannten Spelling-Programm trainiert werden: Hier lernt er, in mehreren Schritten Buchstaben auszuwählen, die in der oberen oder der unteren Bildschirmhälfte präsentiert werden. Auf diese Art kann er Schritt für Schritt Wörter und Sätze bilden.

Hans-Peter Salzmann, der erste vollständig gelähmte Patient, der mit dem System trainiert wurde, kann heute selbst über seinen Zustand berichten: “Es ist nicht immer leicht, meine Krankheit zu ertragen. Aber ich versuche, trotzdem eine angenehme Zeit zu verbringen. Und damit bin ich auch ziemlich erfolgreich”, schreibt der ehemalige Rechtsanwalt in einem Interview mit dem Wissenschaftsmagazin “New Scientist”. Doch diese Art der Kommunikation ist mühsam zu erlernen und zeitaufwändig. Salzmann, der inzwischen jahrelange Übung besitzt, braucht an guten Tagen eine Stunde für einen Text mit etwa 60 Zeichen. Zudem hat von bisher etwa dreißig trainierten Patienten nur etwas mehr als ein Drittel gelernt, mit dem System zu schreiben.

Die Tübinger Wissenschaftler denken daher beständig über Verbesserungsmöglichkeiten nach. Dazu gehören zum Beispiel Methoden, um die Motivation der Patienten zu steigern. Aber auch technische Verbesserungen könnten die Kommunikation effektiver gestalten. “Unser Ziel ist, dass auch der Computer lernfähig wird”, erläutert Hinterberger. “Dadurch könnte das System die Komponenten der Hirnstrom-Signale herausfinden, mit denen die Patienten die zuverlässigsten Antworten produzieren können.”

Schließlich bleibt noch eine Möglichkeit, die die Tübinger Wissenschaftler bisher eher mit Vorsicht betrachtet haben: Die Ableitung der Gehirnströme direkt aus dem Gehirn anstatt von der Schädeloberfläche. Nach den Erfolgen amerikanischer Forschergruppen im Tierversuch hält Birbaumer diese Idee inzwischen nicht mehr für ausgeschlossen. “Diese Signale könnte der Patient gezielter beeinflussen, und so auch Botschaften schneller verfassen.” Bleibt nur die Frage, ob auch die möglichen Nutzer dabei mitspielen würden. Nach Erfahrung der Tübinger Arbeitsgruppe ist die Aussage vieler ALS-Patienten: “Lieber mühsam kommunizieren als ein Loch im Kopf haben.”

ddp/bdw – Christine Amrhein
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